„Die Kosaken vorzuschicken war doch eleganter“

In Moskau neigt Volkes Stimme zu einer radikalen Lösung des Konfliktes zwischen Armeniern und Aserbaidschanern / Abgeordnete halten Regierung und ZK vor, sie hätten im voraus von Pogromen gewußt und nicht reagiert / War Konflikt provoziert, um Perestroika zu gefährden?  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

„Andrej Dmitrijewitsch hätte jetzt einfach allein gehandelt, ohne auf jemanden zu warten“, meinte der Literaturkritiker S. Averinzew auf einer Veranstaltung zum 40. Tag der Trauer um Sacharow und fügte hinzu: „Ich fühle mich wie in einem bösen Traum, wo man genau weiß, gleich muß etwas passieren, und es passiert und passiert nichts.“ Averinzew bezog sich auf die Haltung der Moskauer Öffentlichkeit, die angesichts des Truppeneinmarsches in Baku ähnlich paralysiert wirkt wie die Regierungsspitze. Der Streß des winterlichen Alltags mit seinen verschärften Versorgungsproblemen macht die Menschen wenig geneigt, sich die Sorgen anderer „anzuziehen“, und so mancher fragt sich: „Warum hindern wir eigentlich die da unten, sich gegenseitig abzuschlachten? Dann würden sie wenigstens nicht auf unseren Märkten herumspekulieren.“

„Eingreifen muß man schon, aber nicht persönlich. Die klassisch-imperiale Variante, die Kosaken vorzuschicken, war doch eleganter“, sagte mir neulich ein Taxifahrer. In intellektuellen Kreisen äußert man so etwas nicht laut, doch gedacht werden mag es schon. Immerhin beteiligten sich Hunderte von Mitgliedern anderer informeller Gruppen letzte Woche an der Demonstration der Demokratischen Union auf dem Puschkin-Platz. Und seltsam verstreut hat sich auch in den Kreisen um die oppositionelle Interregionale Deputiertengruppe Protest gegen die Invasion artikuliert. In manch wissenschaftlichem Institut kreisen jetzt Diskussionen verstärkt um Lösungsmöglichkeiten für den transkaukasischen Konflikt.

„Wir dürfen den konservativen Kräften nicht erlauben, den Kaukasus in eine Mine unter der Perestroika zu verwandeln“, fordert eine Reihe dieser Abgeordneten in einem offenen Brief in der Zeitschrift 'Ogonjok‘, den auch das Akademiemitglied Dmitrij Lichatschow mitunterzeichnete und in dem der Nationalitätenkonflikt als „provoziert“ bezeichnet wird. „Es ist nicht ausgeschlossen, daß irgend jemand für sich selbst keinen anderen Ausweg wußte, als eine Situation zu schaffen, die es zwingend erfordert, den Kriegszustand im Lande zu verhängen“, schreiben die Autoren. Als Indizien führen sie an:

1. Die Regierung und das ZK müssen durch die unionsweite Organisation des KGB vom unmittelbaren Bevorstehen der Pogrome in Baku, zumindest von deren allererstem Beginn gewußt haben. Dennoch blieben die Organe des Innenministeriums, der Staatssicherheit, die Polizei und Justiz in Aserbaidschan tagelang untätig. Auch wurden die Armenier aus Baku nicht zu ihrem Schutz geschlossen evakuiert - wie etwa die Mescheten aus Ferghana.

2. Der Zeitpunkt wirkt wie bestellt: Nach Gorbatschows Litauen-Reise zeichnete sich gerade ein Kompromiß zwischen der Zentralregierung und den baltischn Volksfronten ab. Ein erweitertes ZK-Plenum - jetzt verschoben - war in Moskau angesagt, und der 28. Parteitag steht spätestens im Herbst ins Haus. Die Kampagnen für die Wahlen zu den regionalen Obersten Sowjets laufen in vielen Republiken, vor allem in Rußland.

3. Das Entstehen einer Volksfront in Aserbaidschan bot erstmals eine Chance, den zwischen den Regionalregierungen in den islamischen Sowjetrepubliken und Moskau besonders schmutzigen Korruptionsfilz aufzubrechen.

Für das Verhältnis von korrumpierten Regierungsstrukturen und Volksfronten könnte Aserbaidschan vor dem Einmarsch der Sowjettruppen in Baku als extremer Modellfall herhalten. Die gegenseitige Nichtanerkennung war hier total. Wenn nun die Parlamentarier in Aserbaidschan die Invasion öffentlich als ungesetzlich verurteilen und Ultimaten stellen, so ist dies wohl in den meisten Fällen - wie auch bei den „Kommunisten“, die dort heute massenweise ihre Parteiausweise verbrennen ein letzter verzweifelter Schritt, um im persönlichen sozialen Milieu das Gesicht zu wahren. Tatsächlich gewinnt die aserbaidschanische Regierung dabei im Volke kaum Kredit, verspielt aber alle ihre Karten in Moskau.

Der Vorschlag, den der Ökonom Gawrijl Popows auf dem KP -Kongreß für eine demokratische Plattform in der KPdSU am Wochenende in Moskau machte: den verfeindeten Seiten ein Ultimatum zu stellen, zieht wohl kaum. Denn womit könnte das Zentrum heute noch drohen? Auch eine Entflechtung der Nationalitäten in den umstrittenen Gebieten mit nachfolgender Grenzbereinigung erscheint als nicht sehr realistische Maßnahme, auch wenn die heutige stalinistische Ordnung der Grenzen nicht ewig zu währen braucht. Gerade im Landkorridor zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan handelt es sich nicht darum, daß in den Siedlungen jeweils einige Personen fremder Nationalität leben. Da kann ein jahrhundertealtes armenisches neben einem ebenso alten aserbaidschanischen Dorf liegen und gleich danach eine Gemeinde dritter Nationalität. Hier zu entflechten, hieße den polyphonen Chor der Völker, der für den Kaukasus so kennzeichnend ist, für immer zugunsten einiger Solopartituren aufzulösen.

Eine Lösung, die in Moskau bisweilen auch genannt wird, ist der innersowjetische oder auch internationale Multimächtestatus für die betroffenen Regionen. Er erzwänge gemeinsames Handeln der verschiedenen Völker, auch wenn die Utopie einer „vereinigten transkaukasischen Republik“, die in den 20er Jahren heiße Verfechter fand, hier heute niemand mehr vertritt.