: Verlassen und verloren?
■ „Schöne Aussichten - Neue Prosa aus der DDR“
Der unvermindert vitale Versemacher Bert Papenfuß-Gorek beginnt am 7.Februar 1988 einen lyrisch erzählerischen Text: „um mir weitere Qualen zu ersparen, werde ich nichts aussparen“. - „Bauer Pillings Hühner nähern sich dem Haus. Sie haben den Maschendraht unterscharrt, sich kratzfüßig vorangearbeitet, bis das entstandene Loch groß genug war, zum zu entfleuchen. Ein Teil des Volkes blieb zurück...“, beginnt Kerstin Hensel ihre Erzählung Vogelgreif. - Und: „Irgendwann hatte Georg Hand festgestellt, daß er in seinem Geburtsland bleiben würde“, ist der erste Satz einer Story von Uwe Hübner.
Geblieben sind auch sie, Papenfuß-Gorek, Hensel und Hübner. Sie hätten gehen können wie Hunderttausende. Gehen macht noch keine Gemeinsamkeit. Auch nicht die Profession des Schreibens, die den Genannten gemeinsam ist. Das Verbindliche, Verbindende ist, ein Land nicht verlassen zu haben, das seine Bürger im Stich läßt. Über verlassenheit, Verlassensein, Verlorenheit, Verlogenheit fortwährend Worte wechseln zu müssen, heißt, einem Schreib-Zwang ausgesetzt zu sein. Die Schriftsteller in der DDR haben sich dem Zwang nicht entziehen wollen und können. Trotz - oder wegen? - des andauernden Drucks haben die Texte einen solchen Schwung, daß die Literatur keinen Schaden nahm. Wer es wieder einmal
-ganz und gar nicht - glauben möchte, der muß sich ein Stündchen in den Sessel setzen und in der jüngsten Suhrkamp -Sammlung blättern (Feine Sache, wenn ein Stündchen blättern - im Sessel - reicht, Literatur zu konstatieren, d.S.).
Literarisch ge-, besehen hält die Anthologie Schöne Aussichten, was ihr Titel verspricht. Die Inhalte betrachtet, muß eher von trüben Aussichten gesprochen werden, denn es sind beklemmende Beschreibungen zur Situation des Drei-Buchstaben-Landes, die der Band Schöne Aussichten dem Leser bietet. Als „Neue Prosa aus der DDR“ korrekt etikettiert, duftet das frisch geerntete nach frisch geschnittenem Gras. Gemäht haben es der Lektor Christian Döring und der Journalist Hajo Steinert. Beide kennen die DDR-Literatur-Wiese nicht nur als Zuschauer, die am Rande des Zauns stehen. Sie mußten ihren Schnitt nicht an irgendeiner, gar magerer Stelle tun. Das zahlte sich für die Sammlung aus, in der tatsächlich viel von der tatsächlichen Stimmung des Landes und seiner Leute ist, deren tatsächliche Sprecher die Schriftsteller sind: sich nicht immer ihrer Stellvertreter-Rolle bewußt. Das Schlimm-Schöne und Schön -Schlimme im Lande, das keinen Schrecken verbreitet und kaum in Schrecken versetzt, wohl aber in Be-Stürzung, wird von Geschichte zu Geschichte immer deutlicher, eindeutiger und dringlicher. Keiner Laune folgend, schließt der Band absichtsvoll mit einem Dresdner Tagebuch - Achter September bis zehnter Oktober. Ein Ausblick auf wirklich schöne Aussichten? Autor der nicht aufgeregten, aber aufregenden Aufzeichnungen aus bewegten Tagen ist der Dresdner Lyriker Thomas Rosenlöcher. Alles, was in ihm ist, von Angst bis Zorn, sichert er in seinen Sätzen, die auch viel über die manchmal fatale, manchmal so sympathische sächsische Geschmeidigkeit sagen. Wer die kennt - und Rosenlöcher macht sie auch durch die eigene Person gut erkennbar -, sieht vielleicht etwas mehr von dem Hintergrund, vor dem die gewaltlose Revolution vonstatten geht, die von Sachsen ausging.
Die Sammlung summiert die Zuspitzung von Lebens- und Gesellschaftsstimmungen und -situationen. Zugleich nimmt sie die Chance wahr, den literarischen Spurenwechsel von Schriftstellern sichtbar zu machen. Eindeutiger als Papenfuß -Gorek, Jan Faktor und der Nova Johannes Jansen, Jahrgang 1966, zeigen sich Thomas Böhme, Eberhard Häfner, Uwe Kolbe, Thomas Rosenlöcher von ihrer erzählerischen Seite. Das heißt, Döring und Steinert haben sich als Auf-Spürer ausgewiesen. Mit Schöne Aussichten ist eine aktuelle Anthologie auf dem Buchmarkt, die Lebensstimmungen in der DDR ebenso treffend charakterisiert wie eine literarische Situation.
Bernd Heimberger
Schöne Aussichten - neue Prosa aus der DDR, herausgegeben von Christian Döring und Hajo Steinert, edition suhrkamp , 330 Seiten, 16 DM
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