Leben als Peep-Show

■ Wilhelm Genazino will einen Roman geschrieben haben

So einer ist der: Spaziert auf der häßlichen Seite des Frankfurter Mainufers, damit er zu der schönen hinüberblicken kann und sinniert über die dünnen Stellen an seiner Hose. Einer, der frustriert aus der Frankfurter Künstler- szene flieht, um sich mit den Tagebüchern von Max Beckmann vor Kulturekel zu retten. Der in der Straßenbahn nicht lesen kann, weil er sich von tätowierten Männern bedroht fühlt. Der in Cafes Kellnerinnen beobachtet und mit voyeuristischer Distanz eine Psychologie der Bewegungen entwirft. Der über einen Sahnefleck auf seiner Jacke in tiefe Kontemplationen über die Philosophie der Sahne auf Jacken verfällt.

Der, das ist der Ich-Erzähler W. aus Wilhelm Genazinos Buch Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz. Der Titel des Bremer-Literaturpreis-prämierten Werkes ist programmatisch: eine Reihung unzusammenhängender Betrachtungen über Gegenstände, die mit oft peinlicher „Tiefe“ betrachtet werden: Die Philosophie der Mülltonne, des Schuhs, des Stuhls.

W. liebt die Kunst, auf seine Weise: „In den Theatern und Museen gibt es die ernsteste und höchste Kunst, die zu verstehen wir unsere ganze Bildung brauchen.“ Als er wieder einmal am Mainufer Beckmann liest, muß er mitanhören, wie einige SchülerInnen über Mozart lästern: „Moz ist un

beliebt, höre ich, weil schwierig und widersprüchlich und problembeladen.“ Das ist zuviel für den Schöngeist: Mit seiner Freundin Gesa bricht er zu einem Kulturmarathon auf, der ihn über Wien, Paris und Amsterdam durch halb Europa führt.

W. macht ernst mit seiner Kultur: Kein Museum, das er ausläßt, kein Mozart-Grab oder Kafka-Sterbezimmer ist vor ihm sicher, keine Kathedrale, in der Bach georgelt wird. Zwischendurch Kaffeehäuser und Kontemplation. In Paris etwa: „Mir gefallen die Prostituierten, weil sie etwas öffentlich machen, was jeder Mensch tut: warten.“ Aha. Freundin Gesa steht nicht hintenan: „Wenn ich meine Oma sehe, muß ich auch lachen, obwohl sie nicht komisch ist. Ich lache nur, weil ich mich wundere, daß es so alte Menschen gibt.“ Sehr komisch. In Amsterdam: „Ich bin gerne in der Nähe von armen alten Menschen, die essen... Jetzt ist der Alte an der Reihe... Ich bin erstaunt über seine Gier, die in keinem Verhältnis zur Trägheit seiner übrigen Bewegungen steht.“ Hochinteressant!

Sein Turmerlebnis erfährt der kunstbeflissene W. im Wiener Museum für Moderne Kunst: „Wer eineinhalb Stunden allein in einem mit Kunst angefüllten Museum war, kann sich kein Publikum mehr vorstellen.“ Umso besser für die Kunst, meint W., denn so bleibt sie vor Verschmähungen

geschützt und offenbart sich nur noch den wenigen Eingeweihten.“ Was wir brauchen, ist eine Theorie der Verborgenheit. Der Grundgedanke könnte sein, daß das Subjekt die Gesellschaft beobachten darf, diese aber nicht das Subjekt.

Das Leben als Peep-show für Künstler: Nein danke! ma

Wilhelm Genazino: Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz, Reinbek 1989, 32,-