: Katastrophaler Sturm fegte über Westeuropa
Orkan tötete mehr als 40 Menschen in Großbritannien / Meterologen hatten bereits vorgewarnt / Fährbetrieb im Ärmelkanal mußte eingestellt werden / Mehrere Schiffe in Seenot / Anhaltender Stromausfall in vielen Gegenden ■ Aus Lancaster Ralf Sotscheck
Das Wetter ist auch ohne Anlaß das beliebteste Gesprächsthema in Großbritannien. Dennoch ist niemand auf eine Unwetterkatastrophe vorbereitet. Der Orkan, der am Mittwoch vor allem über Südengland und Wales hinwegfegte, kostete mindestens 41 Menschen das Leben, obwohl die ersten Warnungen bereits am Sonntag veröffentlicht worden waren.
Die meisten Menschen starben in ihren Autos, die von umstürzenden Bäumen getroffen wurden. Zwei Mädchen in Wiltshire und in Bristol wurden von einstürzenden Dächern der Schulgebäude erschlagen. Viele ältere Menschen erlitten zum Teil schwere Verletzungen, weil sie von dem Sturm durch die Luft gewirbelt wurden. Eine Million Haushalte in Südostengland sind seit Mittwoch ohne Strom und Telefon. Die Krankenwagenfahrer setzten ihren Streik vorübergehend aus und waren rund um die Uhr unterwegs.
London war von der Außenwelt praktisch abgeschnitten. Der Zugverkehr mußte eingestellt werden, weil Bäume, Telegraphenmasten und Hausdächer die Schienen blockierten. Die Hotels waren restlos ausgebucht und viele Pendler mußten in den Bahnhöfen übernachten. Auf fast allen Hauptstraßen nach London kam es zum Verkehrschaos, weil der Orkan Dutzende von Lastwagen wie Spielzeugautos umgeblasen hatte. Polizeiinspektor Laurie Fray sagte: „Wie kann ein Berufskraftfahrer bei diesem Wetter einen LKW fahren? Uns ist berichtet worden, daß einige Lastwagen auf zwei Rädern balanciert sind. Dafür gibt es nur ein Wort: Wahnsinnige!“ Im Londoner Stadtteil Kensington stürzte ein vierstöckiges Gebäude ein. Selbst das Parlament blieb nicht verschont: Ein Spitztürmchen brach vom Mittelturm des Westminster-Gebäudes ab und fiel hundert Meter in die Tiefe. John Smith, der vor kurzem die Nachwahl in Glamorgan gewonnen hatte, sagte: „Fast hätte nochmal gewählt werden müssen. Das Türmchen ist nämlich auf dem Dach meines Büros gelandet.“ In Winchester fiel das Verwaltungsgebäude des Gefängnisses dem Orkan zum Opfer. Die Gefängnismauer blieb jedoch stehen.
Der Hafen von Dover mußte zum ersten Mal in seiner Geschichte geschlossen werden. Der Sturm hatte das Hafenbecken in einen Bootsfriedhof verwandelt. Segelschiffe, Motorboote und Yachten wurden vom Anker losgerissen und zerschellten an der Hafenmauer. Die Kanalfähre zwischen Dieppe und Newhaven trieb mit Maschinenschaden hilflos im Meer. Nach einer halben Stunde gelang es der Besatzung jedoch, den Schaden zu reparieren, und die Fähre kehrte nach Dieppe zurück.
Die Versicherungsgesellschaften begannen am Mittwoch abend mit der Schadensaufnahme. Die Schätzungen belaufen sich bisher auf 800 Millionen Pfund (ca. 2,3 Milliarden Mark). An der Londoner Börse waren die Versicherungsaktien bereits tagsüber immer tiefer gesunken. Tony Baker, der Sprecher der Vereinigung britischer Versicherungsunternehmen, sagte: „Die Lage ist sehr ernst, aber nicht so ernst wie 1987, als der Sachschaden noch größer war.“
Es ist das zweite Mal in drei Jahren, daß ein Sturm Großbritannien verwüstet hat. Der Orkan im Oktober 1987 war zwar schwerer, doch da er nachts kam, kostete er nur 19 Menschen das Leben.
Die Meteorologen hatten - anders als vor drei Jahren - den Orkan diesmal vorausgesagt und dadurch vermutlich Schlimmeres verhütet. Professor Peter Evans von der Universität Durham glaubt, daß der Treibhauseffekt die Stürme verursacht habe. Er rechnet in Zukunft mit weiteren Orkanen. Der britische Innenminister rief das Kabinett am Mittwoch abend zu einer Sondersitzung zusammen. Es wurde beschlossen, einen Sonderfond für Soforthilfe in besonders betroffenen Landesteilen einzurichten. Die Opposition warf der Regierung Unfähigkeit vor. David Blunkett, der Umweltminister des Labour-Schattenkabinetts, sagte: „Wenn es wahr ist, daß den Ministerien die Gewalt des Sturms vorher bekannt war, hätte die Vernunft ihnen raten müssen, Maßnahmen zu treffen. Die Regierung scheint weder etwas von dem Sturm im Jahr 1987 gelernt zu haben, noch hat sie irgendwelche Katastrophenpläne im Falle einer Wiederholung.“
Das öffentliche Leben in den Niederlanden kam am Donnerstag abend in weiten Teilen des Landes völlig zum Erliegen. Zehntausende saßen auf Bahnhöfen fest, weil die Züge nicht mehr verkehrten. Sie mußten die Nacht in rasch eingerichteten Notunterkünften verbringen. Auch am Freitag morgen war vor allem der öffentliche Nahverkehr in den Niederlanden infolge des Sturmes noch immer stark behindert. Wegen entwurzelter Bäume kam es auf zahlreichen Straßen im Ballungszentrum zwischen Amsterdam, Rotterdam, Utrecht und Den Haag zu kilometerlangen Verkehrsstaus. Viele Züge hatten Verspätung. Vor der niederländischen Küste geriet ein sowjetischer Frachter in Seenot. Die Bemühungen zur Rettung der 56 Besatzungsmitglieder dauerten am Freitag morgen noch an.
Am Freitag hatten noch rund 60.000 Haushalte in Nordfrankreich keinen Strom und zahlreiche Schulen blieben wegen schwerer Sturmschäden geschlossen. Vor der französischen Atlantikküste starben vermutlich drei Personen beim Untergang einer Motorjacht. In Nordfrankreich wurden zwei Bauarbeiter durch einen umstürzenden Baukran erschlagen, und ein zwölfjähriges Mädchen kam ums Leben, als die Mauer einer Schule einstürzte. Die Tancarville-Brücke an der Seine-Mündung bei Le Havre wurde gesperrt, nachdem Orkanböen zwei Lastwagen umgeworfen hatten.
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