: Der sozialdemokratische D-Zug
Zum Auftritt von Willy Brandt im thüringischen Gotha ■ K O M M E N T A R E
Man könnte meinen, da oben gebe es eine Basisgruppe der Partei“, sagte Ibrahim Böhme, Vorstandsmitglied der SPD in der DDR, und deutete auf den blauen Himmel über dem Marktplatz in Eisenach, auf dem sich 20.000 Menschen drängten. Doch der Atheist Böhme weiß genau, daß die mächtigste Basisgruppe der DDR-Sozialdemokraten weder aus himmlischen Heerscharen noch aus neugewonnenen Parteimitgliedern in Suhl, Gera oder Jena besteht: Willy Brandt ist die Ein-Mann-Basisgruppe der SPD, Lokomotive und Speisewagen in einem, 75jähriger Hoffnungsträger der Partei, die ihn vor bald drei Jahren zum Ehrengroßvater ernannt hat. Während die Gründung eines thüringischen Landesverbandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im historischen Gothaer „Tivoli“ inzwischen fast Formsache war, die mit der tatkräftigen logistischen Unterstützung der hessischen SPD ohne Turbulenzen über die Bühne gebracht wurde, gerieten die Auftritte Willy Brandts in Gotha und Eisenach zur politischen Lehrstunde. Wie kein anderer versteht er es, aus seinen öffentlichen Monologen „Dialoge“ mit den Massen zu machen. Ob er Fichte und Garcia Marquez zur Frage der deutschen Einheit zitiert, ob er vor „nationalistischen Rückfällen“, selbstgerechter Suche nach Sündenböcken und falschen Hoffnungen warnt (zugleich aber auf ein schnelleres Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten drängt und „besonders den jungen Leuten“ rät, in der DDR zu bleiben, „weil es sich wieder lohnen wird“), ob er an das historische Verdienst Michail Gorbatschows oder an das Elend der „Dritten Welt“ erinnert - Willy Brandt trifft exakt die Schwingungen der gesellschaftlichen Hoffnungen und Ängste in der DDR. Er macht den denkbar besten Wahlkampf für die SPD Ost wie West -, indem er redet, als gäbe es gar keinen Wahlkampf. Als Populist und Staatsmann in einer Person spricht er im Namen jener Geschichte, die gerade jetzt, Tag für Tag, neu geschrieben wird und jeden Tag neue - konkret begründete - Hoffnung braucht.
Willy Brandt weiß auch, daß die Zeit ein entscheidender Faktor ist. Angesichts des desolaten Zustands der DDR -Gesellschaft insgesamt spielt der prekäre Vorrat an Hoffnung und Motivation in der Bevölkerung eine kaum zu unterschätzende Rolle. Willy Brandts „deutscher Zug“ könnte allerdings auch dann ins Holpern kommen, wenn die bundesdeutsche SPD meint, sie könne nach dem Verlust ihrer Dominanz in den siebziger Jahren nun in der DDR ein bequemes Comeback inmitten der Trümmer des SED-Staats inszenieren. Wenn die zweit- und drittklassigen SPD-Funktionäre aus Hessen den Mund aufmachen, verbreitet sich augenblicklich eine unangenehme Heimspiel-Atmosphäre. Die Selbstlosigkeit, mit der sich etwa der Frankfurter Ex-Oberbürgermeister und frühere Fraktionschef der sozialistischen Parteien im Europaparlament, Rudi Arndt, jetzt Geschäftsführer der thüringischen SPD, zum Plakatekleben und Flugblatt-Verteilen zwischen Eisenach und Erfurt angeboten hat, dürfte nicht mehr sein als ein schlechter Scherz. Die Umstandslosigkeit, mit der die hessische der thüringischen SPD „brüderliche Hilfe“ anbietet, läßt für die Qualität des Wahlkampfs wenig Gutes ahnen. „In dem, was da so schnell groß wird in der DDR und sich SPD nennt, bleiben vorerst manche Hohlräume“, sagte ein Mitglied der thüringischen SPD in Gotha. Die westdeutsche SPD sollte nicht versuchen, sie mit Buttons, Wimpeln und Fähnchen zu stopfen. Der Zug der Zeit könnte sich dafür rächen.
Reinhard Mohr
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