: ICH BIN DOCH KEINE KUH...
■ Das Heimatmuseum Charlottenburg zeigt eine Ausstellung zur Stillpropaganda und Säuglingspflege um die Jahrhundertwende
Vergangenen Dienstag gebar Renate Q. einen Kasper-Heinrich. Drei Tage später wurde das Kind krank, mußte aus der Neugeborenenstation des Klinikums Steglitz in das „Kaiserin -Auguste-Victoria-Haus“ (KAVH) verlegt werden. Dort erleidet er nun alle Qualen einer Intensivmedizin, eine Alternative gibt es nicht.
Vor 90 Jahren wäre Kasper vielleicht gestorben. Er wäre dann eines der jährlich 450.000 Säuglinge gewesen, die im Deutschen Reich vor Erreichung des ersten Lebensjahres beerdigt werden mußten. Mehr als 20 Prozent aller Neugeborenen überlebten die Verhältnisse nicht. Es war die Zeit der engen und feuchten Mietskasernen, Tuberkulose, Thyphus, die Englische Krankheit grassierten. Mangelnde Hygenie, keine Zeit für Zärtlichkeit und falsche künstliche Ernährung töteten zudem viele Säuglinge. „Ich bin doch keine Kuh“, sagten die Mütter und verweigerten ihren Kindern die Brust. Um 1900 wurden nicht einmal ein Fünftel aller Kinder gestillt.
In der einzigen Kinderabteilung eines Berliner Krankenhauses, in der Charite, wurden kranke Säuglinge erst gar nicht aufgenommen. Gott gab die Kinder, Gott nahm sie, da wollte man dem Herrn nicht reinreden. Ausgerechnet ein Militärarzt versuchte es dennoch. Seine Forschungen legte er der Kaiserin vor. Sie ließ sich beeindrucken; weniger als Mutter von sieben Kindern und als Propagandistin der „Sozialen Frage“, sondern weil sie die „Wehrhaftigkeit“ des Deutschen Reiches gefährdet sah. Sie gewann Mäzene, darunter sehr viele jüdische Kaufleute, und bewegte die Stadt Charlottenburg, ein Grundstück zu stiften. Direkt neben dem Schloßpark wurde 1909 der imposante Klinikkomplex des „Kaiserin-Auguste-Victoria-Hauses zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich“ errichtet. Ein „Säuglingspalast“ für die Kinder des Volkes entstand dort nach Ansicht der Kritiker und Neider. Es gab ein Schwangerenheim, in erster Linie für uneheliche Mütter, eine Entbindungsabteilung, eine Neugeborenenstation mit einer Abteilung für „Frühchen“ und eine Station für kranke Kinder.
Protestantisch streng waren die Auflagen im KAVH. Die Mütter mußten sich verpflichten, ihre Kinder streng unter wissenschaftlicher Beobachtung zu ernähren. Wissenschaftliche Ernährung hieß damals Stillen. Um diese revolutionäre Ernährungsmethode unters Volk zu bringen, richtete die Klinik ein „Organisationsamt“ ein und schickte mit dem Segen der Stadt Charlottenburg Säuglingsschwestern auf Hausbesuche. Sie hatten einen schweren Stand, die Fürsorge wurde als Zucht empfunden.„Wir wollen nichts von der Stadt haben. Wir ernähren das Kind selber, ich habe 14 Kinder großgezogen, davon sind bloß sieben gestorben, also können Sie sich denken, daß ich das versteh'“, protestierte eine Mutter.
Noch im Krieg, 1918, verfaßten der ärztliche Leiter der Klinik, Leo Langstein, und der Leiter des Organisationsamtes, Fritz Rott, einen „Atlas der Hygiene des Säuglings- und Kleinkindes“. Das Werk wurde, bis die Nazis es durch Leitfäden zur „Erb- und Rassenpflege“ ersetzten, zur Pflichtlektüre aller mit der Säuglingspflege befaßten Kreise. Ebenfalls 1918 wurde ein Aufklärungs- und Ausbildungsfilm über Schwangerenvorsorge, Stillmethoden und Kleinkinderernährung gedreht. Der Film lief bis in die späten zwanziger Jahre mit großem Erfolg in den UFA -Filmpalästen am Tauentzien.
Zu sehen ist dieser seit 1933 verschollene Film neben vielen anderen Dokumenten zu der vom KAVH organisierten „Säuglingspflege um die Jahrhundertwende“ im Heimatmuseum Charlottenburg. Mit wehmütigem Blick wird dort ein Stückchen Sozialgeschichte präsentiert; 1993/94 wird die Kinderklinik des KAVH integriert in das Klinikmonster Rudolf Virchow im Wedding.
Dann wird Renate Q. ihren Kasper nicht mehr in einem „Säuglingspalast“ besuchen können, sondern in einer Bettenburg im Zweckbauteil.
Anita Kugler
Ausstellung im Heimatmuseum Charlottenburg, Schloßstraße 69, 28.1. bis 11.3.199O. Reprint des Atlasses dort für 25 Mark.
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