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„Die Jahrhundertchance habe ich mir abgeschminkt“

Interview mit Christian Ströbele, Mitglied der AL-Kommission bei den Verhandlungen über die Koalitionsvereinbarungen  ■ I N T E R V I E W

taz: Sie waren maßgeblich an den Koalitionsverhandlungen beteiligt, von Ihnen stammt das geflügelte Wort von der „Jahrhundertchance“ einer rot-grünen Koalition. War es denn tatsächlich eine?

Ströbele: Ich denke immer noch es war eine Chance, die aber leider nicht genutzt worden ist. Viel schlimmer: man hat es gar nicht mal ernsthaft versucht. Nachdem zum Beispiel das Tempolimit auf der Avus durchgesetzt worden war, hätte eine solche Maßnahme nach der anderen folgen müssen, um zu zeigen, daß es im ökologischen Stadtumbau voran geht. Auch im Bereich der multikulturellen Gesellschaft: Das Zögern in der Frage des Ausländerwahlrechts und das Hin und Her bei der Flüchtlingsweisung war wirklich zum Abgewöhnen und Gift für eine solche Aufbruchstimmung. Und gerade jetzt, angesichts dieser Deutschtümelei, wäre es besonders wichtig, hier offensiv aufzutreten.

Liegt der Hund nicht eher darin begraben, daß dieser Senat zumindest am Anfang seine Politik extrem schlecht verkauft hat?

Selbst wenn rot-grüne Inhalte umgesetzt wurden, ist das sehr zögerlich und sehr defensiv geschehen. Dabei muß man sagen - und das gilt nicht nur für den Justiz- und Polizeibereich, in dem ich hauptsächlich mitverhandelt habe

-daß die Bilanz gar nicht so schlecht ist. Mal abgesehen von unserer ursprünglichen Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes haben wir hier mehr erreicht, als wir nach Abschluß der Koalitionsvereinbarungen gehofft hätten. Daß jetzt zum Beispiel so viele Leute ihre Akten einsehen, ist ein Fakt, der ans Mark des Verfassungsschutzes geht. Aber das ist nicht das, was ich mit „Jahrhundertchance“ meine. Das wäre eine Wende in eine ganz neue Richtung gewesen - und das ist nicht geschafft worden.

Einen positiven Punkt muß man allerdings angesichts der neuen deutschlandpolitischen Situation verbuchen: der rot -grüne Senat und auch Momper stellen sich in der Frage der Deutschlandpolitik als einzige gegen diese Deutschtümelei, und Momper tut das sogar gegen die eigene Parteispitze. Das ist nicht zuletzt der AL geschuldet, und so etwas sollte man in diesen Zeiten nicht unterschätzen.

Die AL könnte also gerade vor dem Hintergrund der neuen deutschlandpolitischen Situation neues Profil gewinnen...

Schon. Wenn man aber jetzt weiter macht, dann sind eine ganze Reihe von Gesprächen mit der SPD und Momper erforderlich, weil sich in vielen Punkten etwas ändern muß auch in der Außendarstellung dieses Senats.

Also neue Koalitionsvereinbarungen?

Nein, das hören einige bei uns nicht gerne. Außerdem sind die alten Vereinbarungen besser als ihr Ruf. Nehmen wir mal die Abschaffung der P-Abteilung der Staatsanwaltschaft. Auch wenn die Sache jetzt nur halb durchgezogen wird, der enorme Widerstand zeigt doch, welch tiefen Einschnitt wir damals vereinbart hatten. Also, Neuverhandlungen sind sicherlich falsch, aber aufgrund der neuen Situation und auch des neuen Verhaltens von „König Momper“ muß sicher Tacheles geredet werden.

Ist am blassen Auftreten der AL seit dem 9. November denn nur Walter Momper schuld?

Nein. Das ist ein Geburtsfehler dieser Koalition. Uns fehlt eine Person im Senat, die das allgemeinpolitische Mandat der AL wahrnehmen könnte...

Eine Königin an seiner Seite?

Man kann das auch anders formulieren. Von mir aus Don Quichotte und Sancho Pansa.

Wie sieht Ihre Prognose für den Fortbestand dieser Koalition aus?

Da steht erstmal die Mitgliedervollversammlung im Februar an. Ich will da kein gedehntes oder zähneknirschendes Ja, sondern wenn es ein Ja zur Koalition gibt, dann muß da noch einiges dazukommen. Dann muß es auch eine Perspektive geben. Nicht die „Jahrhundertchance“, die habe ich mir schon abgeschminkt.

Was wäre denn eine AL noch wert, die jetzt die Koalition schmeißt?

Schwierige Frage - und deshalb muß man sich das auch zehnmal überlegen.

Interview: Andrea Böhm

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