: Postkommunistische Nomenklaturfragen
Zur Auflösung der polnischen kommunistischen Partei ■ G A S T K O M M E N T A R
Totgesagte leben länger? Das „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ - im Westen bis vor wenigen Monaten vornehmlich von sozialliberalen oder linkslibertären Denkern proklamiert - scheint sich wohl noch etwas ins nächste Jahrtausend zu verschieben. Wenigstens der Name „Sozialdemokratie“ hat einen neuen politischen Konjunkturzyklus vor sich. Denn das Ende des kommunistischen Imperiums hat - von westlichen Linken unerwartet - die hehren Ideale der zweiten Internationale in neuem Licht erstrahlen lassen. Ex oriente lux: Nach Gorby dürfte Willy derzeit im Ostblock der populärste Berufspolitiker sein - in Polen dürfte er knapp hinter Karol Woytila rangieren.
Vor allem die zerfallenden Staatsparteien (die SED hat zu spät geschaltet) suchen nach unbelasteten Symbolen für einen mehrheitsfähigen Weg aus der Zentralverwaltungswirtschaft und staatlich reglementierten Gesellschaft, der den Idealen der Oppositionsbewegungen und der in ihnen sozialisierten neuen politischen Eliten wenigstens nicht unmittelbar widerspricht. „Sozialismus“ heißt im Ostblock Zwangskollektivierung und Polizeistaat. Alle Fraktionen der aufgelösten PVAP nennen sich darum auf die eine oder andere Weise „sozialdemokratisch“. Und in die Sozialistische Internationale, den Klub der regierungsfähigen Arbeiter- und Beamtenparteien der EG, wollen sowohl die ungarischen Exkommunisten als auch die einzige De-facto-Sozialdemokratie Italiens, die KPI, aufgenommen werden. In letzterer haben allerdings derzeit - eben weil diese westliche Partei noch wesentlich stabiler ausschaut als SED, PVAP oder tschechische Kommunisten - eine Reihe der Spitzenfunktionäre und organischen Intellektuellen noch Probleme mit dem Abschied vom jahrelangen erfolgreichen Markenzeichen „kommunistisch“. Ist damit die grüne und libertäre Kritik am „Sozialetatismus“ (Andre Gorz) obsolet geworden? Ich glaube, nein. Der neue Glanz des demokratischen Sozialismus in den Ländern des bürokratischen Sozialismus bedeutet zunächst die Möglichkeit, die Fragen am Ausgang der Nachkriegszeit zu stellen: zivile Gesellschaft und parlamentarische Demokratie - und/oder das Facelifting „gewendeter“ Eliten; die Frage der ökonomischen Modernisierung, die Einführung marktwirtschaftlicher Steuerungsmechanismen in die von der „Diktatur über die Bedürfnisse“ hinterlassene Krise - aber auch die Frage, wer die sozialen Kosten der Modernisierung zu tragen hat; die nationale und die europäische Frage: Die geforderte Bewegungsfreiheit gegenüber dem Moskauer Zentrum kann einen atavistischen Rückfall in die Balkanisierung Osteuropas bedeuten - oder aber die von Vaclav Havel geforderte „Rückkehr nach Europa“ einleiten.
Fragen stellen zu können ist bereits die Hälfte der Demokratie. Die Fragen gehen übrigens auch an die westliche Sozialdemokratie: Will sie den national-neutralistischen Sonderweg (Brandt) - oder will sie die Öffnung einer „europäischen Föderation“ (Mitterrand) für alle zentraleuropäischen Nachbarn? Will sie zu Schumacher zurück oder nach vorn: in ein offenes multikulturelles Europa?
Otto Kallscheuer
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