: Ich bin eine Metapher
■ Georg Seidels „Carmen Kittel“
Es gibt Bühnenbilder, die wollen partout das Stück erklären. In Düsseldorf schreit es geradezu: Erhöhte Aufmerksamkeit bitte! Ich bin wichtig! Ich bin eine Metapher! Es soll nicht die einzige bleiben an diesem gleichnishaften Abend. Die Bühne wird überspannt von einem dreieckigen, an beiden Seiten hinaufgebogenen Drahtnetz. Das Netz ist das soziale, zugleich Menschenkäfig, zuweilen auch ein Käfig voller Narren. Man kann viel anstellen auf einem solchen nachgebenden Drahtgitter: rennen und rollen, laufen und stolpern, sich hineinwerfen oder dagegen ankämpfen, und jede Menge Krach kann man darauf machen. Das alles tun die darin Eingesperrten ausgiebig. Vor allem aber kann man das Netz für sich sprechen lassen. Das tut der Regisseur.
Die bundesdeutsche Erstaufführung von Carmen Kittel, einem 1987 in Schwerin uraufgeführten Sozialdrama des DDR -Autors Georg Seidel, stand unter doppeltem Beweisdruck: Da sollte belegt werden, daß das im Frühjahr letzten Jahres auf den Spielplan gesetzte Stück nicht nur historische, sondern durchaus aktuelle Bedeutung für die soziale Realität in der DDR hat, nicht nur für jene vergangenen Tage, als Theater noch seine Funktion als Gegenöffentlichkeit hatte. Und man wollte dem neuerdings für Systemvergleiche sensibilisierten hiesigen Publikum die Allgemeingültigkeit gesellschaftlicher Prozesse und ihrer Schattenseiten vor Augen führen. Richtig daran ist, daß die von Seidel entworfenen Biographien keineswegs individuell oder systemspezifisch sind. Falsch ist, daraus abzuleiten, daß er ein bedeutsames Stück geschrieben hätte.
Carmen (Anne Weber), 19 Jahre alt, ist im Heim aufgewachsen. Jetzt lebt sie in einem Betonsilo, „mit Fernseher und Fernwärme und irgendwann fließt Bier aus der Leitung“. Ihren Lebensunterhalt fristet sie durch moderne Sklavenarbeit in einer Kartoffelschälfabrik. Sie wird schwanger, „ein Kind, das wär doch schön“, doch Freund Harald (Uwe Kramer) drängt auf Abtreibung, setzt sie auch durch. Damit hat er sich seiner Verantwortung entledigt und verschwindet erst mal aus ihrem Leben. In Erwägung, daß Mutterschaft in der sozialen Hackordnung nicht zu unterschätzende Erleichterungen mit sich bringt, spielt Carmen für ihre Umgebung weiterhin die Schwangere. Doch das soziale Netz (sic!) zieht sich zu, Carmen gerät unter Druck und klaut ein Kind, das sie zum Schluß - versehentlich oder absichtlich - erstickt. Ende einer freud- und perspektivlosen Jagd nach privatem Glück in einer Gesellschaft, die keinen Ausweg bietet.
So einfach läßt sich eine Geschichte natürlich nicht erzählen. Der Autor hat sie drum in einen komplexen Beziehungsrahmen literarischer Zitate und Mythen gestellt. „Carmen“, das verweist auf Bizet und Merimee. Dankenswert daran ist, daß Seidel diesen Mythos Carmen aus den Höhen der Männerphantasien auf den harten Boden des Kartoffelschälbunkers, also ins Arbeiterinnenmilieu, zurückgeholt hat. Ein weiterer Bezug des Textes liegt in Hauptmanns Ratten. Nicht nur, weil sie angeblich die Gesellschaft unterminieren, sondern weil Carmen Kittel so eine schöne Synthese aus der ihr Kind verstoßenden Piperkarcka und der nach Mutterschaft hungernden John abgibt. Das Fragmentarische und die offene Dramaturgie des Stücks erinnern an Büchners Woyzeck, die auf karge, rhythmische Fetzen reduzierte Bildersprache an die Endzeitstimmung von Harald Muellers Totenfloß.
Diesen Eindruck verstärkt die Inszenierung des bulgarischen Regisseurs Dimiter Gotscheff. Der erzählt die sozialpsychologische Studie nicht linear, was dem Stück überaus gut tut. Er hat den Text auseinandergenommen und zu einer freien Collage montiert. Das vermeidet konsequent und glücklicherweise die Gefahr einer naturalistischen Elendsmoritat, wirft die Inszenierung aber an andere Klippen. Mit einer der Statik des Erzählten entgegenlaufenden Wucht entrollt sich ein expressionistischer Videoclip mit vielen starken Bildern von kurzer Wirkungsdauer. Den Schauspielern bleiben da nur recht eindimensionale Aktionsmöglichkeiten. Das Stück im Netz wird zu einem Gemischtwarenladen expressionistisch wuchernder Phraseologie. Die Themen Abtreibung, Kindermord, Chancengleichheit - laut Seidel steht der Mord für die abgetriebene Utopie der DDR - werden dadurch nur angerissen, ebenso wie die Frage nach der Vermeidbarkeit entwürdigender Arbeit. Dafür gibt's eine Reihe finsterer Parolen aus dem Wörterbuch des Endzeitmenschen, vom Baumsterben und von no future-Gefühlen. Spitzenreiter der simultan gesprochenen und vielfach wiederholten Textfetzen ist ein düsterer Satz aus Brechts Fatzer-Fragmenten: „Denn hier, das spüre ich, bleiben wir länger.“
Im Düsseldorfer Theater konnte man an diesem Abend durchaus verweilen, denn die Bilder, die Gotscheff gefunden hat, sind so dicht wie einfallsreich. Es entsteht ein hochartifizieller kulinarischer fast food, hohe Theaterkunst für den, der's mag. Nur gegen kleinbürgerliche Häme sollte man sich wappnen an diesem Abend künstlerischen Sozialkundeunterrichts: „Kartoffeln“, so sagt der als clownesker Conferencier durchs Stück führende Journalist Stein, „dieses dumpfe Gemüse, sowas ernährt ein ganzes Volk, darum wird's auch hier nie eine anständige Revolution geben, der Deutsche muß erst seine Eßgewohnheiten ändern.“ Selbstgefällig sinkt das Premierenpublikum der Rheinmetropole in die Sessel zurück.
Andrea Faschina
Weitere Vorstellungen am 10., 11. und 15. Februar
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