: Ein Opfer der „Atomeuphorie“ kämpft um sein Recht
■ Zwei neue Gutachten belegen: Der türkische Leiharbeiter Demirci erkrankte aufgrund von Strahlenbelastungen an Krebs / Gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen bei den Atomfirmen KWU und Alkem / Hanauer Oberstaatsanwalt erwägt Anklageerhebung
Frankfurt (taz) - Noch zögert der Hanauer Oberstaatsanwalt Albert Farwick mit der Anklageerhebung gegen die Betreiber der Hanauer Plutoniumfabrik ALKEM, der Kraftwerk Union AG in Erlangen und der Hanauer Großreinigungsfirma Böhm. Erst Ende Februar könnten die „umfangreichen Ermittlungen“ im Fall Necati Demirci zu einem Abschluß gebracht werden. Denn der Anzeigenerstatter Necati Demirci (44) sei sehr schwer krank und dürfe deshalb nur behutsam vernommen werden.
Der türkische Leiharbeiter Demirci ist in der Tat schwer krank. In einer Heidelberger Lungenspezialklink haben die Ärzte vor zwei Jahren seiner linken Lunge ein großzelliges Krebsgeschwulst entdeckt und dem Mann eine Chemotherapie mit Zellgiften verordnet. Dennoch mußte ein Jahr später der gesamte Lungenflügel operativ entfernt werden. Noch vor dem Eingriff hatte Demirci Strafanzeige gegen die Atomfirmen Alkem und KWU sowie gegen seinen unmittelbaren Arbeitgeber Böhm erstattet. Der türkische Arbeiter ist davon überzeugt, in mindestens zwei Fällen radioaktiv verseucht worden zu sein.
Daß Demirci ein Opfer der bundesdeutschen Atomindustrie ist, glauben auch die Ärzte einer Spezialabteilung der Universitätskliniken Bremen, die Demirci vor zwei Jahren untersuchten. Dabei stellten sie bei der Analyse einer Gewebeprobe eine Plutoniumverseuchung der Lunge des Patienten fest. Die leitende Ärztin Prof.Ingrid Schmitz -Feuerhake hatte erklärt, Necati Demirci sei ein „Opfer der Atomenergieeuphorie“ geworden: „Jede Plutoniumverseuchung ist lebensgefährdend.“ In der anschließenden Ganzkörperuntersuchung des bekleideten Demirci in einer Meßkammer zeigte der Kontrollmonitor einen Spitzenwert im Cäsium-Bereich. Nach einer Einzelmessung der Kleidungsstücke stand fest, daß der Hosengürtel Demircis mit über 41.000 Becquerel Cäsium verseucht war. Den Gürtel hatte Demirci bei Reinigungsarbeiten im KWU-Labor im nordbayerischen Karlstein getragen. Daß Demirci mit diesem Gürtel die Kontrollschleusen bei der KWU überhaupt passieren konnte, hielten die Bremer Wissenschaftler für „schlicht skandalös“.
In Karlstein hatte Demirci in den Jahren 1985/86 - zusammen mit anderen Arbeitern der Reinigungsfirma Böhm - einen Abwasserkeller der KWU gesäubert, in dem zuvor bei Reparaturarbeiten an der Abwasserleitung radioaktiver Staub aufgewirbelt wurde. Nachdem die Aufsichtbehörde auf die gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen bei der KWU aufmerksam gemacht wurde, ordnete das zuständige Umweltministerium die Untersuchung von 130 Mitarbeitern der KWU an. Im Atomzentrum Karlsruhe wurde dann bei 20 Untersuchten eine „meßbare Inkorporation radioaktiver Stoffe“ diagnostiziert, zum Teil „oberhalb der zulässigen Jahresaktivitätenzufuhr“. Necati Demirci wurde dabei als „gering belastet“ eingestuft. Heute darf der Abwasserkeller der KWU nur noch mit Atemmaske und Schutzanzug betreten werden.
Daß Necati Demirci bei der KWU kontaminiert wurde, ist unstrittig. Strittig ist noch, ob Demirci auch bei der Hanauer Plutoniumfabrik Alkem, die inzwischen wie die KWU zum Siemens-Konzern gehört, gleichfalls radioaktiv verseucht wurde. Sein Anwalt Matthias Seipel ist davon überzeugt, denn Demirci mußte in den Produktionspausen der Alkem plutoniumverseuchte Handschuhkästen von innen reinigen. In Anlehnung an den „Fall Demirci“ hatte das hessische Umweltministerium vor Jahresfrist die Beschäftigung von Leih - und Fremdarbeitern in atomaren Anlagen per Erlaß untersagt.
In der Auseinandersetzung, ob der Lungenkrebs Demircis auf die Verseuchung mit Plutonium und anderen radioaktiven Substanzen rückgeführt werden kann oder ob es sich - wie in einem ersten Gutachten für die Berufsgenossenschaft behauptet - um ein „spontan entstandenes Lungenkarzinom“ handelt, liegen der ermittelnden Staatsanwaltschaft jetzt zwei weitere Gutachten vor. Sowohl im zweiten Gutachten der Berufsgenossenschaft als auch in einem von Rechtsanwalt Seipel bestellten Gutachten vertreten die Experten unabhängig voneinander die Auffassung, daß für den bei Demirci entstandenen Lungenkrebs eine Strahlenbelastung „ursächlich“ gewesen sei. Sollte die Staatsanwaltschaft Ende Februar tatsächlich Anklage gegen die Verantwortlichen der Atomfirmen und der Reinigungsfirma Böhm erheben, käme es in Hanau zu einem Musterprozeß, den Necati Demirci stellvertretend für alle MitarbeiterInnen in AKWs und anderen atomaren Anlagen zu führen hätte - falls ihm die tödliche Krankheit die Zeit dazu läßt.
Klaus-Peter Klingelschmitt
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