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Konferenz mit einer Leiche

■ Historiker Michael Stürmer „raddatzt“ in der 'Frankfurter Allgemeinen‘

Seit F.J. Raddatz das Dorf Combray in Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit in „Colombray“ verwandelte und kurze Zeit darauf ein Goethe-Zitat über den (erst ein halbes Jahrhundert nach Goethes Tod erbauten) Frankfurter Bahnhof präsentierte, steht die Vokabel „raddatzen“ für hochgelehrte Dummschwätzerei. Daß die 'FAZ‘, die seinerzeit das Zitat in der 'Zeit‘ entdeckte und aufs schärfste geißelte, ihrerseits vor dem allfälligen Geraddatze nicht gefeit ist, steht seit dem vergangenen Samstag fest. „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ - damit bauchpinselt die 'FAZ‘ nicht nur ihre Leser, sondern auch sich selbst. Häufiger als anderswo stammen Kommentare von Professoren, Doktoren und anderen staatlich geprüften „klugen Köpfen“. Für historische Klugheit sind vor allem drei Herren zuständig: Golo Mann, der kürzlich Adorno und Horkheimer beschimpfte, weil sie ihm den Professorenhut verweigert hatten, Ernst Nolte, der seit längerem Auschwitz als „asiatische Tat“ herunterspielen darf, und Michael Stürmer, der dabei sekundierte und ansonsten als Geschichtsprofessor und Kohl-Berater fungiert. Ein Stürmer-Leitartikel auf Seite 1 der 'FAZ‘ am 27.1. Beginnt mit folgendem Satz: „45 Jahre und eine Revolution ist es her, daß in Potsdam Roosevelt, Stalin und Churchill zusammenkamen, um über das besiegte Deutschland zu entscheiden.“ Roosevelt war zur Zeit der Konferenz tot, sein Nachfolger Truman war es, der in Potsdam konferierte. Ein kleiner Fehler, in der Tat, wäre nicht die Potsdamer Konferenz und ihre Besetzung für jeden Historiker dasselbe wie das kleine Einmaleins für Abiturienten. Was von der Stürmer-Beschreibung des Westfälischen Friedens, des Friedens von Utrecht und Rastatt und von Wien zu halten ist, über die er im Anschluß an die „Konferenz mit einer Leiche“ schreibt, liegt auf der Hand. Wem schon 1945 das Gedächtnis versagt, dem ist, wenn es um 1648, 1713/14 und 1815 geht, erst recht nicht trauen.

mbr

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