: „An wen soll ich mich denn wenden?“
Der „runde Tisch des Sports“ offenbart eher die ganzen Probleme in der DDR, als daß er sie löst Bisher war der Macht- und Geldfluß zentral geregelt, jetzt gilt: etwas Marktwirtschaft mit Chaos ■ Aus Ost-Berlin Herr Thömmes
Karl Marx, mit wallendem Haar und krausem Bart, schaut ernst wie immer vom Wandteppich auf die Versammlung herab. Auch denen, die am „runden Tisch des Sports“ Platz genommen haben, ist nicht gerade zum Lachen. Wie auch, wo sie doch hier im neu geschaffenen „Amt für Jugend und Sport“ Probleme zu wälzen haben, gegen die die Quadratur des Kreises vergleichsweise simpel wäre?
Dabei ist die Ausgangslage für die hier beratenden „Vertreter aller Parteien und gesellschaftlichen Gruppen“ noch recht einfach zu beschreiben: Spitzensport weiter fördern, den bislang vernachlässigten Freizeit- und Breitensport gleichberechtigt daneben stellen, nichtolympische Disziplinen aus ihrer Diskriminierung befreien. Lauter hehre Ziele, nur wie sind die zu erreichen, wenn weniger Geld plötzlich auf mehr Menschen verteilt werden soll?
Der Sport in der DDR ist in ein tiefes Loch gefallen. Nichts ist mehr, wie es war; niemand vermag genau zu sagen, wie es werden soll. Und für die große Debatte fehlt es an der Zeit. Mit einem Wort charakterisiert Dr.Harold Tünnemann vom Neuen Forum die Situation: „Notstand.“ Sein Kollege vom Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig, Dr.Jürgen Hartmann, mahnt deshalb an schnelles Handeln: „Was in den nächsten vier Wochen verpaßt wird, ist kaum noch aufzuholen.“
Weil immer mehr Sportler, Trainer, Wissenschaftler und Mediziner ihr Glück im Westen suchen; weil eine Betriebssportgemeinschaft (BSG) nach der anderen in Gefahr gerät, da die Leitungen kein Geld mehr aus den Kulturfonds abführen; weil Ministerpräsident Modrow angekündigt hat, rund 30 Prozent des alten Sportetats von rund 300 Millionen könnten im neuen Haushalt fehlen; weil die Olympiavorbereitungen für Albertville und Barcelona jetzt weitergehen müssen.
Höchste Zeit also, etwas zu unternehmen. Und die rund 30 Sportfreunde, die sich am Mittwoch nachmittag in Ost-Berlin, Mohrenstr.6, zum zweiten Mal am runden Tisch gegenübersitzen, äußern auch ihre ganze Entschlossenheit. Vorerst aber muß die Geschäftsordnung geklärt werden. Wer ist stimmberechtig, wie kann der Einfluß der SED-Funktionäre klein gehalten werden, darf ein vom runden Tisch der Jugendorganisationen entsandter Vertreter auch Mitglied einer der Parteien sein? Nein? Kommt das dann nicht einer Entmüdigung des runden Tischs der Jugend gleich? Wäre das undemokratisch?
Wilfried Poßner versucht als Moderator, das ausufernde Gerangel zu schlichten. Der Leiter des Amtes für Jugend und Sport muß auch im Verlauf der weiteren Diskussion immer wieder zum eigentlichen Sinn des Treffens zurückführen: „Maßnahmen zur Sicherung des Sportes durch den Staat.“ Denn diese Runde soll ja gerade das Vakuum füllen, das der absterbende DDR-Staat hinterlassen hat; soll den zentralistischen Macht- und Geldfluß durch etwas anderes ersetzen.
Das fällt nicht immer leicht. Ein Marxist von der Gruppe „Nelken“ beispielsweise weiß nicht, wie er in seinem Eislaufverein in Dresden in die Umkleideräume kommen soll. Die Schlüssel sind weg, die Verantwortlichen auch. Was nutzt es da, daß Tünnemann rügt, hier könne nicht jeder seinen persönlichen Korb an Problemen ausschütten. An wen, fragt verzweifelt der Marxist, soll ich mich denn wenden?
Vielleicht wird die ganze Mallaise des DDR-Sports am besten am Thema „Preisverordnung“ deutlich. Der Eintritt zu Sportveranstaltungen war bisher spottbillig, ein Oberligaspiel kostete nicht mehr als eine Bockwurst. Und weil das Zauberwort heute „Selbstfinanzierung“ heißt, müssen neue Grundlagen her. Poßners Stellvertreter hat also eine Vorlage ausgearbeitet: Eintrittsgelder sind künftig frei festzusetzen, müssen aber von den Ämtern der jeweiligen Kommunen - eine glatte Absage an den alten Zentralismus! genehmigt werden. Weil sie sich doch irgendwie nach „dem Niveau der Veranstaltung, dem Service für die Zuschauer usw.“ richten sollen.
Solcher Dirigismus wird am Tisch einhellig abgelehnt: „Volle Marktwirtschaft“ heißt die Devise. Und weil Marktwirtschaft ohne Gewinn nicht vorstellbar ist, wollen einige jetzt schon festschreiben, wie dieser abzuführen sei. Es mangelt ja an jedweder Regelung: Sportgesetz, Vereinsgesetz, alles soll bald kommen. Vorerst aber, das hat Poßner schon eingangs erklärt, hilft die Diskussion darüber nicht weiter: Wir müssen warten auf den 18.März, den Wahltag der Volkskammer.
Und heute? Lauter Klagen: 25 Busse werden den Leistungssportlern genommen und für andere Zwecke genutzt, das sind 30 Prozent der Kapazitäten; die Interhotels wollen Gäste der Sporverbände nicht mehr gegen DDR-Mark einquartieren; der VEB Versorgungstransporte Berlin hat dem Sportclub Dynamo per Brief mitgeteilt, Lehrlinge nicht mehr zu den bisherigen Konditionen ein- und freizustellen - 4.000 Mark pro Jahr und Kopf will der marktwirtschaftlich orientierte Betriebsleiter; der gesamten Sportvereinigung Dynamo stehen ab sofort 40 Prozent weniger Mittel zur Verfügung, 25 Prozent Personal fehlen; für den Sport „in den Territorien“ (Poßner) fehlen im laufenden Jahr rund 25 bis 30 Millionen.
Was tun? Hat der FDGB nicht Rücklagen von 50 Millionen? Liegen nicht noch 10 Millionen für den Spitzensport aus dem Etat '89 bereit? Wenn nur die Mitgliedsbeiträge um eine Mark pro Monat erhöht würden, stünden 40 Millionen mehr zu Verfügung im Jahr. Und lassen sich nicht die Gelder für die Staatssicherheit auf den Sport umwidmen?
Vorschläge jede Menge. Nur, wer ist denn eigentlich zu solchen Schritten berechtigt? Und wer sollte das Geld verteilen? Könnte denn nicht ein Arbeitskreis...? „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bild‘ ich einen Arbeitskreis“, höhnt der FDJ-Vertreter. Vorschlag verworfen.
Immerhin, schon schon zu Anfang der Sitzung ist einmütig ein Appell verabschiedet worden. Der Aufruf geht an alle Verantwortlichen in der DDR, vom Kombinatsdirektor über die Übungsleiter bis zur Sportartikelindustrie: „Rettet den Sport.“ Und wegen der vorgezogenen Wahlen, weil die Zeit drängt, wird sich der runde Tisch künftig alle zwei Wochen in diesem schmucklosen Raum treffen. Noch zweimal bis zum 18.März.
Nur, wenn Dr.Jürgen Hartmann und andere Insider die Situation richtig einschätzen, ist es dann schon für vieles im Sport der DDR viel zu spät.
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