"Viertes Reich" mit starken Muskeln

■ Pressereaktionen auf Hans Modrows Vereinigungsplan aus Großbritannien, Frankreich und Italien

Modrows 4-Punkte-Plan zur deutschen Einheit hat in Großbritannien wenig Aufsehen erregt. Die deutsche Wiedervereinigung ist für London schon seit Öffnung der Mauer beschlossene Sache. Auch das Plazet des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow Mitte der Woche wurde lediglich als Formsache gesehen. Anders als in Frankreich und Italien schreckt die Vorstellung eines „Vierten Deutschen Reichs“ jedoch niemanden auf der britischen Insel, da sich die Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren als „eine der erfolgreichsten Demokratien der Welt“ ('Independent‘) erwiesen habe. Der 'Guardian‘ wertet Kohls kühle Reaktion auf Modrows Vorschlag als Indiz dafür, daß der Einfluß der Kommunisten in der DDR zügig gegen Null strebe. 'Guardian'-Reporter David Childs glaubt, daß die deutsche Wiedervereinigung zu mehr Wohlstand in ganz Europa führen werde. Er schreibt: „Es wird bedeuten, daß eine gefährliche Situation im Herzen Europas beseitigt ist und daß eine neue demokratische Ordnung in Europa aus den Trümmern aufsteigen wird.“

Ganz so euphorisch sieht es der Wirtschaftsexperte Alex Brunner nicht. Er glaubt, daß die deutsche Einheit grundlegende Auswirkungen auf den europäischen Binnenmarkt 1992 haben würde. Europa wäre nach 1992 mit einem übermächtigen vereinigten Deutschland konfrontiert, dessen Bruttosozialprodukt mehr als ein Viertel der gesamten EG ausmachen würde. Brunner sagt: „Dieses Vierte Reich wäre eine wirtschaftliche Supermacht von japanischer und US -amerikanischer Größe. Sein starker Muskel würde den konzeptionellen Rahmen Europas fundamental verändern - eines Europas, auf das wir in Großbritannien uns gerade eingerichtet haben.“

Die Kommunistische Partei Großbritanniens begrüßt die deutsche Einheit dagegen ohne Vorbehalt. Ihre Vorsitzende Nina Temple sagte am Donnerstag abend zur taz: „Wir sollten uns darauf freuen, anstatt auf den Weltkrieg zurückzublicken. Deutschland war das Symbol eines geteilten Europas. Jetzt könnte es zum Symbol eines Europas nach dem kalten Krieg werden.“

Die Thatcher-Regierung vertraut zwar auf Kanzler Kohl, daß sich ein vereintes Deutschland an die Verpflichtungen gegenüber der EG halten wird, ist jedoch um die Bindung der Bundesrepublik an die Nato besorgt. Das Verteidigungsministerium hatte bereits Ende letzten Jahres die Geheimdienstaktivitäten in der Bundesrepublik intensiviert. Zahlreiche Agenten des MI-6 wurden im November auf das europäische Festland beordert, um regelmäßig über die Bedeutung der Entwicklung in Osteuropa und vor allem über die deutsche Wiedervereinigung zu berichten. In dieser Frage arbeitet der MI-6 eng mit dem französischen Geheimdienst zusammen.

Ralf Sotscheck, Dublin

Die französische Presse schwankt noch immer zwischen Wunsch und Wirklichkeit, aber die engsten Berater Präsident Mitterrands machen sich keine Illusionen mehr. „Entweder die deutsche Einheit kommt außerhalb der Blöcke zustande oder im Rahmen völlig neu definierter Bündnisse oder, zu guter Letzt, sie kommt innerhalb eines Paktes zustande, wobei der andere - der Warschauer Pakt - das Wesentliche seiner Substanz verlöre“, schreibt die französische Tageszeitung 'Le Monde‘: Während Europa gestern noch die Hoffnung hegte, die deutsche Wiedervereinigung sei mit dem Fortbestand der Bündnisblöcke zu versöhnen, so sei heute klar, daß die deutsche Einheit die Blöcke spaltet. Überraschende Schlußfolgerung: Wenn dem so ist, dann kann auch die Sowjetunion an der deutschen „Neutralisierung“ kein Interesse haben, vom „antideutschen“ Polen ganz abgesehen.

Will Gorbatschow knapp vierzig Jahre nach Stalins „Angebot“ an Adenauer noch immer Deutschlands „Neutralität“ im Herzen Europas? Darüber gehen in Frankreich die Meinungen auseiannder. Während die einen glauben, daß Hans Modrow sich den patriotischen Rettungsring zuwirft, um in den anstehenden Wahlen nicht vollends unterzugehen, meinen andere, daß es sich um einen „Modrow-Gorbatschow-Vorschlag“ handelt - so schreibt die linksorientierte Tageszeitung 'Liberation‘ unter der Überschrift „Die Rückkehr einer Nation, die Bündnisse gefährdet“. Wie in vielen anderen Kommentaren bleibt offen, ob die Gefahr nun von der drohenden Wiedervereinigung oder von der noch immer bedrohlichen deutschen Nation ausgeht...

Im Elysee-Palast denkt man derweil zweigleisig. Offiziell warnt Fran?ois Mitterrand noch immer vor der „Explosion der Bündnisse in Europa“ und - folgerichtig - vor der „Neutralität“ Deutschlands im Herzen Europas. Inoffiziell gibt ein enger Mitarbeiter des französischen Präsidenten freilich zu, daß „die Blöcke in Europa so sicher auseinanderfallen werden, wie Deutschland sich unweigerlich wiedervereinigt“. Die Folge für Frankreich? Es gilt so lange zu bremsen, bis der Zusammenbruch der alten Machtstrukturen von neuen zumindest aufgefangen werden kann. Das ist, so der Mitterrand-Berater, das „taktische Nahziehl“. Strategisch muß sich „Frankreich mit der deutschen Hegemonie in Europa zu arrangieren suchen“. Das ist offensichtlich ein Dilemma, insofern Frankreich - dank Atomstreitmacht und seinem diplomatischen Resonanzkasten in der Dritten Welt - sich bislang als „politischer Kopf Westeuropas“ profilieren konnte.

„Natürlich hätten wir, von unserer Interessenlage betrachtet, lieber ein neutralisiertes als ein neutrales Deutschland“, erklärt im beziehungsreichen Scherz der Mitarbeiter des französischen Präsidenten. Das kommt der Wahrheit sehr nahe. Anders als vor 40 Jahren wäre ein neutrales Deutschland im Zentrum Europas heute kein Machtvakuum mehr, sondern Machtfülle, wenn nicht -überfluß. Auch aus französischer Sicht.

Knut Pedersen, Paris

Für Italiens Medien ist der Modrow-Plan im wesentlichen nicht viel mehr als der „Wiederaufguß des alten Planes schon aus der Stalin-Zeit, Deutschland zu neutralisieren“ - so der staatliche Rundfunk RAI. Ein Plan, der - und das klingt bei den meisten Kommentatoren eher wie eine Erleichterung „natürlich für Kanzler Kohl unannehmbar ist“. Der links-grün -alternative 'Il manifesto‘ hat - als einzige wichtige Tageszeitung - die Neutralisierung als oberste Schlagzeile: „Ein neutrales Deutschland. Das ist der Vorschlag Modrows. Kohl sagt nein dazu.“ Mehr auf Ressentiments gegen das Preußentum zielt dagegen der Aufmacher der KP-Parteizeitung 'L'Unita‘: “'Berlin Hauptstadt‘: Ein Plan der DDR für die deutsche Einheit.“ Die linksunabhängige 'La Repubblica‘ sieht in dem Ganzen nur „einen Plan der DDR für ein einziges Deutschland“ - einen von mehreren möglichen. Manche Zeitungen, wie der sozialistische 'Il Giornale d'Italia‘, übergehen den Plan völlig - obwohl PSI-Außenminister De Michelis nahezu alle Tage Neues über Deutschlands Einheit zum besten gibt.

Zwei Elemente, die die Zeitungen durchwegs hervorheben, weisen ebenfalls auf die unterschwelligen Bedenken hin: Nahezu alle zeigen sich erstaunt, daß ausgerechnet Modrow den Plan verkündet. Man hätte es wohl eher von Gorbatschow als eine Art neuen Gag erwartet.

Werner Raith, Rom