In der Straße seiner Jugend

■ Zur Erinnerung an Arthur Eloesser

Heinz Knobloch

Kommt sein vokalreicher Name heute etwa noch in Kreuzworträtseln vor? Zu seiner Zeit war er als Theaterkritiker zuweilen gefürchtet; er sammelte, gab heraus, schrieb Vorworte, ein begehrter Redner bei Feierlichkeiten. Ein nahezu Vergessener, dieser Arthur Eloesser (gesprochen Elo-esser). Einer der Flaneure, worunter der langsam Spazierende zu verstehen sei, der sieht und zuschaut, beobachtet und bemerkt; der nicht übersieht, der nachdenklich geht, ja schlendert, stehenbleibt, um einen Einfall zu notieren, von Fremden nach einer Straße gefragt wird und viele Augen öffnen kann, wenn er das Erlebnis, gefiltert durch seine Sensibilität, aufschreibt: „Aber wer wird nicht zum Dichter, wenn er zwecklos auf der Straße treibt... Oder sagen wir bescheidener, wer wird nicht zum Phantasten?“

Eloesser kam am 20.März 1870 zur Welt. In Berlin. In der Prenzlauer Straße 26, wo sein Vater, ein Zugereister, ein „Waaren-Commissions-Geschäft“ betrieb. Die Straße meiner Jugend, nannte Eloesser sein kleines Buch, das 1919 erschien. Die Großstadt als Heimat, die Straße als poetischer Gegenstand.

„Die Straße enthielt alles, was eine Straße enthalten muß, breite, bürgerliche Anständigkeit, kleinbürgerliche Gedrücktheit, proletarisches Elend und hoffnungslose Verkommenheit. Sie begann nicht unansehnlich und nicht ganz unsauber an einem Platze, der noch zum Zentrum gehört, und immer schmutziger, duftender, von einer gefährlichen Verwandtschaft zum Scheunenviertel gezogen, lief sie schnell zu einem Tor, das kein Tor mehr war.“ Die Straße seiner Jugend war „ein Ganzes, sie hatte ihren Charakter, ihre Tradition und auch ihr bestimmtes Ehrgefühl“. Als er das schrieb, wohnte er nicht mehr dort. Verschwieg aber nichts, verleugnete die Herkunft nicht. Das hatte er bereits mit 23 Jahren bewiesen, nachdem er bei dem seinerzeit berühmten Berliner Germanisten Erich Schmidt promoviert hatte und Universitätsprofessor hätte werden können, wenn er - „Die ganze Sache wäre vereinfacht“, sagte der Professor, „wenn Sie sich entschließen könnten...“, bei uns Mitglied zu werden. Durch Taufe. „Nein, Herr Professor“, sagte Eloesser, „ich kann mich nicht entschließen!“ Schmidt drückte ihm die Hand, „und mit der Professur war es vorbei“. So wurde er zum Literaten. Zum Theaterkritiker und Feuilletonredakteur der 'Vossischen Zeitung‘, dem ältesten und angesehenen Blatt der Stadt. Einer von Eloessers Lesern war Victor Klemperer, dessen LTI man alle Jahre wieder einmal vor Augen nehmen sollte...

Eloesser war Dramaturg und leitete später den Schriftstellerverband; er schrieb für die 'Weltbühne‘ Jacobsohns und hielt ihm im Dezember 1926 die Gedenkrede, dem elf Jahre Jüngeren: „Jeder Jüngere begeht Achtungsverletzungen, die dem Älteren etwas weh tun, nicht so sehr, wenn er uns widerspricht, sondern vielmehr, wenn er frei und frech das heraussagt, was wir uns vielleicht schon selbst gesagt haben, aber noch gern ein wenig für uns behalten hätten.“

Als Ossietzky 1931 wegen einer Veröffentlichung zu Gefängnis verurteilt wurde, reichte sein Anwalt ein Gnadengesuch ein, das Arthur Eloesser durch einen Brief unterstützte, der in den Akten erhalten blieb: „Wenn das Begnadigungsrecht des Reichspräsidenten allein die Möglichkeit hat, fehlerhafte und unverständliche Urteile der Rechtsprechung aufzuheben, so scheint mir dieser Fall besonders geeignet, es in seiner hohen und nicht mißzuverstehenden Autorität gewähren zu lassen.“ Eloesser war damals so prominent wie Döblin, wie Arnold Zweig, die, wie Einstein und die beiden Manns, das Gesuch unterstützten. Wenn es auch nichts genützt hat seinerzeit, so steht es heute noch und für morgen als Sinnbild für Solidarität der Anständigen.

Eloesser schrieb über deutsche Literatur von der Romantik bis zur Gegenwart, Porträts über Balzac und Zola, Kleist, Elisabeth Bergner und Thomas Mann, der sich zwar freute, den Verfasser aber nie ganz ernst nahm, weil er keine Romane schrieb.

Als 1931 die Akademie der Künste den 60.Geburtstag ihres Mitglieds Heinrich Mann ehrte, war Arthur Eloesser der erste Festredner. Doch im erregten Eifer vorn am Pult verwechselte er die Vornamen. Mit der Anrede „Du“, wie sie einem Redner auch am Sarg gestattet ist und erst recht an solchem Feiertag, sprach er: „Du, Thomas Mann...“ Das Publikum raunte, Thomas Mann in der ersten Reihe bekam Zornfalten; der verwirrte Eloesser verlor den Faden, nahm die Brille ab, wußte aber natürlich nicht, was er falsch gesagt haben konnte. Er fand Halt im gütigen, leise ironischen Lächeln von Heinrich Mann, den er noch dreimal im Verlauf seiner Ansprache mit „Thomas“ anredete. Hermann Kesten, dem wir diese Episode verdanken, schreibt: „Bei jeder neuen Verwechslung wurde das Publikum immer unwilliger und Eloesser immer verwirrter, und Heinrich Manns Lächeln immer freundlicher und tröstlicher.“ Das sind die Minuten unseres Weiterlebens.

Rudolf Arnheim, der in den USA lebende Nestor der 'Weltbühne'-Autoren, erklärte 1931 über Eloesser, der damals den zweiten Band seiner Literaturgeschichte veröffentlicht hatte: „Er gibt keine Formeln. Aber er gibt Formulierungen.“ Fragt Autoren solcher Werke, ob sie das über ihre Bücher lesen konnten. Arnheim: „Vierzig Jahre Tagesschriftstellerei haben seine Hand so leicht gemacht, daß er einen Wälzer von Lexikonformat bis an den Rand anfüllen kann mit zierlichen, kräftigen, weltklugen, ironischen Sätzen und mit einem Humor, der nur ein anderes Wort ist für Weisheit.“

Hitler, wen wundert es, hat das umfangreiche Werk des Essayisten, Literaturwissenschaflers und Kritikers zerstört. Mit seinen Redaktions- und Kritikerkollegen Max Osborn und Julius Bab war Eloesser einer der Begründer des Jüdischen Kulturbundes in Berlin, der mit einer Nathan-Aufführung seine Existenz dokumentierte. Von zwei Reisen nach Palästina, 1934 und 1937, kehrte Eloesser nach Berlin zurück. Hier war 1936 sein letztes Buch erschienen: Vom Ghetto nach Europa. Eine essayistisch angelegte deutsch -jüdische Literaturgeschichte von Moses Mendelssohn bis Berthold Auerbach. Selbstbehauptung eines deutschen Juden, dessen Bücher im Mai 1933 mit verbrannt worden waren, der sich aber weigerte, zu emigrieren und die Demütigungen ertrug.

Arthur Eloesser starb am 14.Februar 1938. Monty Jacobs, sein Freund und Kollege von der 'Vossischen‘, die schon Anfang 1934 ihr Erscheinen einstellen mußte, sprach im Krematorium von „Berufsleid und Familienleid“, und jeder wußte, was gemeint war. Eloessers Kinder waren „vom Zeitenschicksal in ferne Erdteile verschlagen“, lies: vor dem Faschismus geflohen. Sie überlebten. Margarete, seine Frau, mußte schon im April 1939 umziehen in eine sogenannte „Judenwohnung“ als Untermieterin. Am 25.Januar 1942 wird die Sechzigjährige als Nummer 506 mit dem zehnten Osttransport nach Riga deportiert und dort ermordet. Beim Lesen ihrer „Vermögenserklärung“: Neun Handbücher, zwei Kaffeelöffel, drei Nachthemden. Was ihr Guthaben anbelangt, schreibt die Behörde an die Deutsche Bank, das Vermögen der - und nun Originalton der Mörder: „der außerhalb des Reichsgebietes abgeschobenen Jüdin“ sei dem Reich verfallen. Die korrekte Bank weigert sich „unter Vorbehalt, da wir nicht zweifelsfrei feststellen können, ob die Voraussetzungen für den Vermögensverfall vorliegen“. Unten handschriftlich der Zusatz: „Ausgewandert“. Das klingt noch harmloser. Nachdem die Bank unmißverständlich aufgefordert wird, meldet ihr nächstes Schreiben überwiesene 1.022,60 Reichsmark und: „Unsere Geschäftsverbindung mit der Genannten ist damit erloschen. Heil Hitler, Deutsche Bank.“

Arthur Eloesser war so verschollen, daß sein Todesjahr unklar blieb. Und sein Grab? In der Ferne? Es liegt nahe. Ursula Madrasch-Groschopp, der 'Weltbühne‘ arbeitslebenslänglich verbunden, hat es 1985 gefunden. Auf einem der Berliner Friedhöfe, die heute zum Bezirk Potsdam gehören.

Unversehrt liegen im New Yorker Leo-Baeck-Institut Originalbriefe von Eloesser aus seiner Zeit als Kritiker der 'Vossischen‘ von 1928. Fast auf den Tag genau sechzig Jahre später hat Michael Eloesser, der Enkel, sie dort gefunden und schreibt mir: „Erschütternd, welche Zeugen die Juden damals aus Deutschland mitgenommen haben. Als wollten sie sich von Berlin nie trennen.“

Seinerzeit, 1919, im Buch wollte Arthur Eloesser den Namen seiner Straße nicht nennen, weil sie noch schmutziger, noch häßlicher war als geschildert. Sie duftete „zugleich nach Sprit und Käse“. Die Prenzlauer Straße gibt es nicht mehr. Spurlos ist sie verschwunden. 1950 noch fuhr die Straßenbahn eingleisig hindurch in Richtung Alexanderplatz. Es gab in dieser engen, düsteren Straße ein einen Invaliden ernährendes Antiquariat, in dem ich mir am Gehaltstag ein paar Nachschlagewerke leistete.

„Hier hat die Luft so wie die Erde ihre Geschichte.“ Wenn einer nun alte und neue Stadtpläne nimmt, dazu Phantasie und Lineal, dann ist Eloessers Haus, in dem er geboren wurde und wuchs, in der Nummer 26, dann ist das heute auf den Punkt genau dort, wo das Verlagshaus der 'Wochenpost‘ steht. Die Straße ihrer täglichen, wöchentlichen Geburt für die hier verlegten Blätter; und für manche dort Tätigen, ohne daß sie es schon merken, auch die Straße ihrer Jugend.

Von Arthur Eloesser ist zur Zeit lieferbar: Die Straße meiner Jugend - Berliner Skizzen, mit einem Nachwort von Peter Moses-Krause, Verlag Das Arsenal, 124 Seiten, mit zeitgenössischen Fotografien, 16,80 DM

Vom Ghetto nach Europa - Deutsche Juden im geistigen Leben des 19. Jahrhunderts, Verlag Das Arsenal, 240 Seiten mit vielen Abbildungen, 36 DM (erscheint im Februar)