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Mit der Demokratie hapert es bei der ÖTV

Landgericht Stuttgart geißelt die innergewerkschaftlichen Strukturen der ÖTV / Teile der Satzung sind grundgesetzwidrig / Funktionäre knebeln ihre Basis / Vertrauensleute eines Hamburger Hafenbetriebs gewannen Klage / Das Urteil trifft auch andere Gewerkschaften  ■  Aus Hamburg Florian Marten

Mit einem sensationellen Urteil hat das Landgericht Stuttgart einen weißen Fleck der Rechtslandschaft ausgefüllt: Konnten bislang beispielsweise Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihre internen Strukturen recht frei selbst bestimmen, formulierte das Gericht jetzt anläßlich eines Streitfalls zwischen Hamburger HafenarbeiterInnen und der ÖTV scharfe Anforderungen an die demokratische Verfassung großer Verbände.

Ein Kernsatz der schriftlichen Urteilsbegründung vom 22. Januar 1990 lautet: „Die Gewerkschaften können ihrer vom Grundgesetz zugedachten Rolle nur gerecht werden, wenn die Mitglieder ihre Interessen innerhalb der Organisation so artikulieren können, daß diese auf allen Ebenen bis hinauf zur Gewerkschaftsspitze präsent sind und ernstgenommen werden müssen(...)Damit sich Willensbildung von unten nach oben entfalten kann, muß die Gewerkschaft demokratisch strukturiert sein(...)Das Ideal des Grundgesetzes ist die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger am politischen Prozeß und nicht die selbstherrliche Entscheidungsfindung durch Funktionärseliten.“ (Geschäftsnummer: 220 138/89) Systemwidrig

Die RichterInnen des Stuttgarter Landgerichts betonen ausdrücklich, daß dies für alle Großverbände gelte: „In einem demokratischen Rechtsstaat wäre es systemwidrig, mit Rechtssetzungsbefugnis ausgestattete Verbände allein wegen ihrer privatrechtlichen Organisationsform vom grundsätzlichen Erfordernis demokratischer Legitimation der Normsetzungsorgane durch die Normunterworfenen freizustellen.“

Ausgangspunkt des Stuttgarter Verfahrens war ein Konflikt im stadteigenen und größten Hamburger Hafenbetrieb, der HHLA, seit Jahrzehnten eine Hochburg hanseatischen SPD- und Gewerkschaftsfilzes. Eine Gruppe von ÖTV-Mitgliedern hatte sich dort unter der Bezeichnung „Alternative“ zusammengeschlossen. Im März 1987 wurden 13 Mitglieder der Alternative zu Vertrauensleuten gewählt. Im April 1987 errang die Alternative bei den HHLA-Betriebsratswahlen mit einer eigenen Liste 6 von 23 Mandaten.

Die hauptamtliche Bezirksleitung reagierte prompt: Am 29. April 1987 weigerte sie sich, den 13 Vertrauensleuten der Alternative die Bestätigung auszusprechen. Der Widerspruch der Betroffenen wurde abgeschmettert. Die 13 legten Klage ein. Sie wollten einen Absatz der bundesweit gültigen Leitsätze für die Wahl von Vertrauensleuten für unwirksam erklären lassen, nach welchem von den Mitgliedern gewählte Vertrauensleute erst noch von den jeweiligen Kreis- oder Bezirksvorständen bestätigt werden müssen. Verstoß gegen das

Grundgesetz

Das Stuttgarter Landgericht folgte der Klage und erklärte den entstprechenden Passus der ÖTV-Satzung für „unwirksam“ und „nichtig“. Er verstoße gegen das Grundgesetz (Artikel 9, Koalitionsfreiheit) und das in der ÖTV-Satzung aufgestellte „Gebot der innergewerkschaftlichen Demokratie“. „Oberstes Ziel einer Gewerkschaft“, so die RichterInnen, müsse es sein, „den tatsächlichen Bedürfnissen der einzelnen Mitglieder an der Basis so weit wie möglich zu entsprechen.“ Weder die Bestätigung der Vertrauensleute durch übergeordnete Funktionäre noch die innergewerkschaftlichen Schiedsgerichte würden dieser Anforderung gerecht: Die ÖTV verfüge über „keine unabhängigen Schiedsgerichte“.

Vor Gericht hatte die ÖTV dies auch gar nicht behauptet. Sie räumte ein, „nicht basisdemokratisch organisiert zu sein“, sondern sich „ein System demokratischer Repräsentation“ aufgebaut zu haben. In Hamburg nimmt dieses System dank spezieller Regeln für die Wahl des Bezirksvorstands absurde Formen an: Ein Teil der Delegierten für die Wahl des Vorstandes wird von den Vertrauensleuten gewählt. Der Vorstand kann also sein eigenes Wahlgremium durch Nichtbestätigung unbequemer Vertrauensleute frisieren. Das Gericht: „Unter demokratischem Blickwinkel ist dieser Zustand untragbar(...)Die Beklagte (die ÖTV) gefährdet damit ihren Vereinszweck, als Selbsthilfeorganisation die Interessen ihrer Mitglieder authentisch zu vertreten.“ Betonriege bleibt stur

Zwischen dem Stuttgarter Hauptvorstand und dem Hamburger Bezirksvorstand kam es nach Bekanntwerden des Urteils zu harten internen Auseinandersetzungen. Während Stuttgart zum Einlenken gegenüber der Alternative riet und auf Schadensbegrenzung setzte, blieb die Hamburger Betonriege stur. Erst vor wenigen Tagen wurde den jetzt vom Gericht bestätigten 13 Vertrauensleuten die Teilnahme als Gäste an einer Vertrauensleuteversammlung der HHLA verweigert.

Nachfragen der taz lösten ein hektisches Krisensitzungskarussell aus. Ergebnis: Der Stuttgarter Hauptvorstand will gegen die Ungültigkeitserklärung der Satzung in Berufung gehen. „Davon zu trennen ist allerdings der Hamburger Vorgang.“ Der Hauptvorstand werde den „demokratischen Prinzipien der ÖTV“ auch in Hamburg „Geltung verschaffen“. Hamburgs Bezirkschef Horst Matthiesen: „Wir prüfen das Urteil und werden daraus Konsequenzen ziehen“. An Rücktritt denkt er bislang freilich nicht, obwohl seine Wahl nach Auffassung der RichterInnen demokratischen Regeln nicht entspricht.

Auch andere Gewerkschaften haben allen Grund zu zittern: Die Bestätigung von Vetrauensleuten durch übergeordnete Gremien ist auch in anderen Organisationen üblich. Mit Berufung auf das Stuttgarter Urteil könnte eine breite Diskussion um die innergewerkschaftliche Demokratie in der BRD entstehen.

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