piwik no script img

Kohl sieht Substanzverlust der DDR

■ In Davos verabredeten Kohl und Modrow wirtschaftliche Stützungsmaßnahmen noch vor dem 18.März - angesichts des „ungewöhnlichen Ernsts der Lage“ / Modrow will über Neutralität mit sich reden lassen

Davos (ap/dpa) - Zehn Tage vor dem deutschlandpolitischen Gipfel in Bonn hat Bundeskanzler Kohl nach einem Vorbereitungstreffen mit DDR-Ministerpräsident Modrow in Davos den „totalen Stimmungseinbruch“ in der DDR hervorgehoben, der vor allem wirtschaftliche Gründe habe. Nach einem einstündigen Gespräch unter vier Augen kündigte der Kanzler rasche Wirtschaftshilfe für die DDR noch vor der Wahl am 18.März an. Modrow seinerseits relativierte seinen Plan zu einem neutralen, vereinten Deutschland - es handele sich um eine „Überlegung zum Dialog“.

Modrow äußerte im Anschluß an das Gespräch mit Kohl die Hoffnung, daß es bei der Wirtschaftshilfe „nicht nur um Kredite, sondern auch um eine solidarische Unterstützung geht“, wie Kohl es in Dresden versprochen habe. Modrow verwies darauf, daß die Kontakte mit BRD-Firmen langsam in eine Umsetzungsphase kämen. „Das Tempo beginnt sich zu forcieren.“ In seiner Rede vor den Wirtschaftsexperten nannte der Kanzler eine energische, vorwärtsgerichtete Reformpolitik die einzige Garantie für die Stabilität in der DDR. Er warnte davor, vom Kurs der Vernunft, des Dialogs und der spürbaren Veränderungen abzuweichen, da sonst ein fortgesetzter Massenexodus die Chancen wirtschaftlicher Erholung schwinden lasse. Nicht zuletzt brauchten die Menschen in der DDR greifbare Verbesserungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich: „Die Bundesregierung ist bereit, hierzu Hilfen in neuen Größenordnungen zu leisten“, kündigte der Kanzler an.

„Heute ging es vor allem darum, daß wir beide noch einmal den ungewöhnlichen Ernst der Lage betont haben, der darin besteht, daß die Zahl der Übersiedler weiterhin hoch ist, rund 55.000 im Januar. Dies ist eine Entwicklung, die uns zutiefst besorgt macht, denn wenn wir zu einer Stabilisierung kommen wollen - wir müssen vor allem zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung der DDR kommen - dann brauchen wir alle diese Menschen“, betonte Kohl.

„Was mir besondere Sorge macht, ist auch der enorme Verlust der Autorität des Staates in diesen Wochen“, fuhr er fort. Die DDR verfalle in ihrer wirtschaftlichen Substanz. Es müsse die gemeinsame Sorge sein, ungeachtet des Wahlkampfes diesen Prozeß zu stoppen.

Doch die Menschen in der DDR hätten schon größtenteils die Hoffnung verloren, daß sich wirtschaftlich in ihrem Land etwas ändere, fügte der Kanzler am Abend in einem ZDF -Interview hinzu. Gespräche über ökonomische Hilfe seien jetzt vordringlich. Auch über das Thema Währung werde er daher schon bei Modrows Besuch in Bonn reden. Die Bundesrepublik werde das „Menschenmögliche tun, um zu helfen“. Kohl warf der DDR-Regierung vor, sie habe mit den notwendigen Entscheidungen über die Investitionssicherung westlicher Unternehmen zu lange gewartet. Jetzt müßten staatliche und private Investitionen rasch gebündelt werden.

Zum Plan für ein neutrales, vereintes Deutschland, der Kohl zufolge in der Unterredung mit Modrow nicht zur Sprache gekommen war, sagte der Kanzler in Davos, er wolle keine deutschen Alleingänge oder nationalistische Sonderwege. „Ich lehne deshalb auch ein Konzept deutscher Neutralität strikt ab.“ Ein Vorschlag, wie ihn Modrow in seinem Stufenplan vorgelegt hatte, widerspreche der Logik des gesamteuropäischen Einigungsprozesses.

Auf die Frage, ob seine Forderung nach Neutralität Deutschlands die angestrebte Einheit nicht unmöglich mache, betonte Modrow in dem ZDF-Interview, er biete mit seinem „Vorschlag nur eine Überlegung an“. International sei eine Diskussion entstanden, und er habe nicht erwartet, „daß gleich alle jubeln und sagen: Genau so wird es sein“. Sein Plan sei eine „Überlegung zum Dialog“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen