: „Wie lange wollen Sie denn bleiben?“
■ Westler zieht in den Osten: Bernd G. hat für 150 D-Mark ein Zimmer am Prenzlauer Berg / Der Wohnungsnot im Westen zieht der Pendler die tägliche Grenzkontrolle vor / Vermittlung über Mitwohnzentrale
Die Zöllner hatten aufgepaßt. Als Bernd G. am Mittwoch letzter Woche mit seiner kleinen Reisetasche den Grenzübergang Bornholmer Straße gen Ost-Berlin passierte, mußte er seine gesamte „sorgfältig zusammengepackte Wäsche“ ausräumen, selbst Tabakbeutel und Kulturtasche wechselten die Grenze nicht unbesehen. „Wie lange wollen sie denn bei uns bleiben“, wurde der junge Mann von einem der grauen Zollbeamten gefragt. „Zehn Tage Urlaub will ich machen, mir 'mal alles angucken“, antwortete Bernd seinen zurechtgelegten Satz. Als er seinen Hausstand wieder eingepackt hatte, begann für Bernd G. natürlich nicht der Urlaub. Der 35jährige zog erleichtert weiter zu seinem neu gemieteten Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg.
Der arbeitslose Maschinenbauer gehört - vielmehr gehörte zu den 140.000 Wohnungssuchenden in West-Berlin. Jetzt ist er einer der noch wenigen, die im Osten eine Bleibe gefunden haben. Ein kleines möbliertes Zimmer, in das bei bestem Willen bloß ein Bett und ein Schrank paßt. 150 Mark West zahlt Bernd seiner Ost-Vermieterin dafür. Die 37jährige Angelika H. kann von dem Geld nicht nur die Miete der gesamtem Zweieinhalbraum-Wohnung bezahlen, in der auch ihre 14jährige Tochter wohnt, sie könnte davon sogar zwei weitere Wohnungen anmieten. Doch das Geld ist nicht für Mietspekulation gedacht.
„Ich hatte erst überlegt, in West-Berlin als Reinigungskraft zu arbeiten, um D-Mark zu verdienen.“ Und wenn sie in schmutzigen Treppenhäusern gemeinsam mit Meister Propper genug Geld zusammengewischt hätte, wäre sie der griechischen Sonne entgegengeflogen. Denn den lang ersehnten Urlaubstraum kann sie von ihren 850 Nickel-Mark, die sie in der Hochschule für Musik verdient, nicht verwirklichen. Wischen braucht sie nun aber doch nicht. „Mein Bekannter in West-Berlin kam auf die Idee, das Zimmer zu vermieten.“ Sie gab ihre Adresse einer Mitwohnzentrale. Und prompt konnte sie einen Tag vor dem Vorstellungsgespräch mit Bernd G. nicht mehr schlafen. Fragen über Fragen beschäftigten sie: Welche Erwartungen wird der Untermieter haben? Welche Lebensgewohnheiten? Wie verkraftet es jemand, täglich kontrolliert zu werden? Besondere Erwartungen hat der neue Mieter nicht mitgebracht. Die hat er im letzten halben Jahr beim vergeblichen Durchforsten von Wohnungsinseraten, beim Telefonieren mit Maklern und Mitwohnzentralen alle verloren. Dem provisorischen Unterkommen bei genervten Bekannten zieht er liebend gerne die tägliche Grenzkontrolle vor. „Irgendwann muß ich mich vielleicht entscheiden, wo ich leben will“, überlegt Bernd G., aber im Moment hat der Westler mit Ost-Zimmer ganz andere Sorgen. „Mein Reisepaß ist bald voll.“ Und ihn stört, ständig aufzufallen. Ob nun beim Zigaretten drehen, beim schwerfälligen Sortieren des ungewohnten Hammer-und-Sichel-Geldes oder beim Fahrkarten lösen - „ich weiß nicht, wie man die abstempelt.“ In der Küche von Angelika H. sieht es aus wie in der Küche einer West-Wohngemeinschaft. Die Sitzecke ist auf halbe Höhe vertäfelt, auf dem Bord steht blaues Tongeschirr. Daneben ein Radiowecker mit digitaler Zeitauskunft. Allerdings zischt in keiner Ecke eine Kaffeemaschine vor sich hin. Die Wände sind weiß gestrichen, immergrüne Pflanzen zieren das Fensterbrett. In Muttis Zimmer starrt die Tochter Kommissar Derrick in sein schwarz-weiß flimmerndes Gesicht.
Nur sieben Minuten entfernt versuchen Zollbeamte, Ost und West wie eh und je auseinanderzuhalten. „Wie lange wollen sie denn bei uns bleiben?“, wird einer mit voller Reisetasche gefragt.
Dirk Wildt
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