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Nach Warschau ja, zu den Palmen nein...

■ Berlin Hauptbahnhof: Die meisten Züge sind (noch) S-Bahnen / Heute küssen sich keine alternden Staatsoberhäupter mehr auf den Bahnsteigen - jetzt wartet der Bahnhof auf die Züge aus allen Himmelsrichtungen / Den Atlas sollte man selbst mitbringen

Nur mal auf die Bahnhofstoilette gehen, doch vom Fernweh gepackt spontan den nächsten Zug besteigen und in Länder reisen, die so verlockend von den Anzeigetafeln abzulesen sind. Das wird auf dem Berliner Hauptbahnhof wohl niemandem wiederfahren. Einzig Warschau oder Moskau könnten dazu verleiten, aber dafür müßte man sechs Wochen vorher Platz oder Liegekarten bestellen. Die meisten Züge sind hier S -Bahnen, die die Menschen zur Arbeit, aber nicht nach Rom, Paris oder zu den Palmen der Riviera bringen können.

Demnächst wird sich das aber ändern. In den Achtzigern sollte nach dem Willen der SED „ihr“ Berlin endgültig zur sozialistischen Metropole mutieren. 1985 wurde deswegen mit dem Umbau des „Ostbahnhofs“ zum „Hauptbahnhof“ begonnen. Eine Entscheidung, die - selten genug - heute positiv bewertet werden darf. Die Berliner Fernbahnhöfe können nämlich wegen ihrer städtebaulichen Einengung kaum noch ausgebaut werden. Nach Abschluß der Erweiterungsarbeiten im September wird somit der Hauptbahnhof der größte in der Stadt sein und damit zum Zentralbahnhof für Ganz-Berlin avisieren. „Hier machen dann alle internationalen Züge Station“, plant Herr Schmiebel, der Direktor des Bahnhofs. Auch die Züge nach Hamburg oder München, die bis jetzt erst im Bahnhof Friedrichstraße bestiegen werden dürfen, werden dann von hier aus starten. Die Größe des Bahnhofs und die veränderte politische Lage lassen noch ein ganz anderes Projekt zu: Die Hochgeschwindigkeitsbahn Hannover - Berlin könnte nicht - wie geplant - am Bahnhof Zoo, sondern im Hauptbahnhof enden. Ein Plan, den Herr Schniebel als durchaus realistisch einschätzt. Auch in offiziellen Gesprächen über seinen Verkehrsverbund zwischen Ost und West spielte das Thema bereits eine wichtige Rolle.

Dem steht, der Wende sei Dank, auch eine Nebenfunktion des Bahnhofs nicht mehr im Weg: die des „Rangierbahnhofs“. Wenn der Sinn nach Zugfahren stand, ließen die SED-Genossen hier ihre Abreise und, schlimmer noch, ihr Wiederkommen durchgeplant bejubeln. Vor allem Staatsführer ohne ärztliche Flugerlaubnis wie der ungarische Ex-Parteichef Kadar oder der nordkoreanische Conducator Kim El Sung küßten sich auf den Bahnsteigen mit Honecker.

Wer mit der Eisenbahn nur innerhalb der DDR rumholbern will - der muß den Bahnhof wechseln. Nationale Züge fahren nur von Lichtenberg und Schönefeld. Ratsam ist es, die Reisedaten über die telefonische Auskunft (Nr.: 311 02 11) abzufragen. Die Infostände sind überlastet, weil unterbelegt, und manchmal fehlt's auch am Handwerkszeug. „Atlas müssen Sie hier selber mitbringen“, entfährt es einer Auskunftsdame beim ergebnislosen Suchen nach dem Reiseziel einer jungen Frau. Wer sich vor Langeweile unterwegs schützen will, sollte alles Lesbare schon in West-Berlin besorgen. Seit drei Monaten lesen die DDR-Bürger wieder ihre eigenen Zeitungen - und die sind jetzt früh um sieben ausverkauft.

Ohne Air-Condition, Flugzeugsessel und Bordsteward bieten die Züge zu längst vergessenen Preisen Eisenbahnfahren pur wie in alten Zeiten. Ein Kilometer in der zweiten Klasse kostet ganze acht Pfennig, 11,6 muß man für die First-Class hinblättern. Wer es besonders eilig hat und einen Express -Zug nimmt, zahlt zwei Mark drauf. Zwar läßt der Name es vermuten, doch die Realitäten verhindern, daß der am Ende auch der schnellste ist. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf den Schienen der Republik beträgt zwar 120 Stundenkilometer, aber das setzt ein intaktes Schienennetz voraus, das es nicht mehr gibt. Von 14.000 Kilometern Gleisen in der DDR sind 5.000 Kilometer durch Alkalischäden in den Betonschwellen echte Bremsspuren geworden. Die können oftmals nur mit Schrittgeschwindigkeit überrollt werden, so daß Verspätung zur gängigen Vokabel wird.

Daß bei solchen Fahrpreisen wenig Geld zur Beseitigung der Mängel bleibt, liegt auf der Hand. Zumal im Subventionswunderland DDR 75 Prozent aller Fahrgäste als Rentner, Studenten, Schwerbeschädigte, Kinder, Soldaten usw. auch noch zu Sonderpreisen reisen, die den Schleuderpreis pro Kilometer noch einmal halbieren. „Aber einen Fahrpreis, der kostendeckend ist, könnte sowieso keiner bezahlen“, weiß Herr Schniebel. Schließlich rast selbst die Bundesbahn mit einem Kilometerpreis von 60 Pfennigen seit Jahren durch die roten Zahlen.

Ein Tip noch zum Schluß. Für viele Züge ist es ratsam, eine Platzkarte zu kaufen. Die kostet nur 50 Pfennige und ist zumindest für den Inlandverkehr auch für den selben Tag noch zu haben. Revolutionstouristen, die im „Südostkanal“ durch die „befreiten Gebiete“ nach Prag, Budapest, Bukarest oder Sofia fahren wollen, müssen sich selbige aber schon mindestens zwei Wochen im voraus besorgen. In den internationalen Zügen ist die Platzkarte meistens Pflicht, und wer, in der CSSR zum Beispiel, ohne fährt, kann sogar „vom Fahrgastverkehr ausgeschlossen werden“, mindestens aber Strafe zahlen.

Torsten Preuß

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