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■ Proleten, Kulturschaffende und Genossen zwischen Amok und Koma

Gabriele Goettle

6.Dezember 1989, Hauptstadt der DDR. Nach vierzehn Tagen in der Provinz wirkt Ost-Berlin wie eine amerikanische Metropole. Gewöhnt an stille Straßen und beschauliche Abendbeleuchtung, ist die Fahrt durchs Zentrum für uns ein echter Kulturschock. Weihnachtlich orgiastisch blinkt und leuchtet es aus den Schaufenstern und von den Fassaden, jede Neonreklame übertrumpfend. Das Deutsche Theater ist ebenfalls festlich bestrahlt. Die Pförtnerin am Bühneneingang scheint weniger hell, den Namen des von mir gesuchten Herrn hat sie noch nie gehört. Mürrisch weist sie mir den Weg zur Theaterkantine: „Runter in den Keller und dann immer dem gelben Strich nach!“ Tatsächlich findet sich nach einigen Fehltritten in Heizanlagen und Verschlägen eine Tür, hinter der sich Bühnenarbeiter und Schauspieler mittels diverser Getränke für die Arbeit stählen. Dem Herrn hinter der Theke sagt der Name auch nichts, aber ein freundlicher Bühnenarbeiter erinnert sich und führt mich zum Probenplan. Die Proben waren bereits am Vormittag. „Versuchen Sie es doch mal auf der Abendprobebühne, die ist drüben im Bunker, gleich gegenüber“, empfiehlt er und lächelt aufmunternd.

Nachdem wir im Bunker auch nicht fündig werden, beschließen wir hinauszufahren nach Friedrichsfelde, um den Gesuchten dort zu erwarten. Bei der Fahrt durch die Karl-Marx-Allee der ehemaligen Stalin-Allee - fällt uns jenes zarte alte Männlein ein, das im Oktober 1987 am Projekt der „Schriftsteller-taz“ teilnahm. Er hatte sich dem versammelten Plenum vorgestellt mit den Worten: „Ich bin ganz offiziell hier, mit der ausdrücklichen Genehmigung von ganz oben...“ Jeden Morgen erschien er pünktlich mit schwarzer Aktentasche und regem Interesse, schrieb per Füllhalter in gestochener Architektenschrift seine kleinen, irgendwie weltfremden Kommentare, um anschließend diversen Damen umständlich den Hof zu machen. Auf der Höhe seiner Manneskraft hingegen hat Henselmann dem großen Georgier den Hof gemacht, mit der Konzeption dieser Allee.

Dem Tierpark gegenüberliegend erstreckt sich eine umfangreiche Trabantenstadt, bestehend aus Wohntürmen und langen Häuserblocks; allesamt zehn- bis zwölfgeschossig. Es gibt einen Einkaufsmarkt, Sportplätze, Post, Cafe und Restaurant und einen großen Bücherladen. Auf den Wegen und Plätzen zwischen den Betonklötzen hat man das übliche „sanitäre Grün“ eingepflanzt, im DDR-Fachjargon „fußbodenbegehbares Straßenbegleitgrün“ genannt. Arbeiter entsteigen ihren Trabis oder Wartburgs, kommen von der U -Bahn und eilen an den gleichförmigen Wohnmaschinen vorbei, ohne sich in ihrer Adresse zu irren. Die meisten tragen jene DDR-typischen Mützen in schwarz oder braun, die ein wenig an unsere Prinz-Heinrich-Mützen erinnern, aber ganz etwas anderes sind, nämlich Thälmann-Mützen.

In der Nummer 9 ist die gläserne Eingangstür verschlossen. Drinnen, hinter einer zweiten Glastür, hängen in der Halle die Briefkästen. Sinnigerweise ist dort auch die Klingelanlage untergebracht. Während wir noch beratschlagen, was zu machen sei, nähert sich langsam eine Frau mit Hund. Ihr Gang scheint unsicher. Der Hund, klein und struppig, zerrt sie von Busch zu Busch hinter sich her. Wir fragen nach einer Telefonzelle, sie bleibt stehen, stützt das Kinn in die Hand und überlegt. Am Arm trägt sie eine schwarze Plastikhandtasche, seitlich ragt der Hals einer Weinflasche heraus. „Nee... also Telefonzelle... wüßt ick nich...“, sagt sie, schüttelt das strähnige Har aus der Stirn und atmet eine kräftige Alkoholfahne aus.

„Wir willen ja nur jemanden besuchen“, erklären wir. Besorgt betrachtet sie uns, ihr Gesicht mit den Tränensäcken und der großporigen Haut nimmt einen entschlossenen Ausdruck an. „Allet zu, wa?“ stellt sie fest und beginnt in ihrer Tasche zu kramen, zieht einen Schlüssel hervor und steckt ihn ins Schloß, „mal sehn... nee, det ist klar, so jeht's nicht auf.“ In diesem Moment öffnet sich drinnen die Fahrstuhltür, ein Halbwüchsiger kommt heraus.

„So, nu könnwa rin!“ ermuntert sie uns. Auf der Klingelanlage stehen nur Zahlen. „Müller gibts hier nicht offenbar“, sagt Eliesabeth, aber die Frau erwidert: „Det besacht nischt, ick wohne nu schon 5 Jahre drüben bei mir und steh‘ immer noch nich druff... (lacht) mir jibt's eben nich! Gucken wa ma bei die Briefkästen... na! Wat sage ick? Hier steht's doch, so, seine Zahl müssense jetzt drücken.“ Die Sprechanlage jedoch bleibt stumm. „Nischt? Isser wahrscheinlich uff Nachtschicht“, tröstet sie, und Eliesabeth murmelt: „Das wird es sein.“

Im Aufzug sind scheppernde, schleifende Geräusche zu hören und das Zusammenpressen der Luft im Schacht, wenig später surren die Türen auf, ein bärtiger Herr erscheint, mustert uns kurz und sagt ungefragt: „Sie wollen wahrscheinlich zu Müller. Der ist vor einer Stunde weggegangen“, nickt uns zu und geht. „Da sehnse, ick hatte recht“, sagt sie erfreut, „watten nu? Wollnse warten? Wer weiß, wanner wiederkommt. Ich rate dazu: Zettel innen Kasten und denn mitkommen uffn Bier! Nich Schnuffi, so machen wir's.“

Zerstreut streichelt sie den Hund und fragt: „Nix zu schreiben? Daran solls nich liegen, ick bin immer uff alle Eventualitäten vorbereitet, det hamwa gleich!“ Sie wühlt in der Tasche, plötzlich gleitet der Riemen vom Arm und alles prallt mit einem dumpfen Knall am Steinboden auf. Sie bückt sich seufzend und hebt die Tasche auf, rechts und links fließt in langsam versiegendem Strahl der Wein heraus, „nu sitzen wir auf dem Trockenen und allet schwimmt... den Reisepaß kann ick verjessen, hab‘ ick erst vor ner Woche bekommen, det Ding, der riecht nu, daß man es von weitem schon merkt...“, sagt sie gefaßt, stülpt die Tasche um, sodaß alles zu Boden fällt, der zersplitterte Flaschenhals, Kamm, Schlüssel, Papiere, Kleinkram und Scherben. Der Hund springt verschreckt zur Seite. „Ach, da isses ja! Dich hab ick jesucht“, ruft sie aus und fischt einen triefenden Taschenkalender aus der Pfütze, reicht ihn Eliesabeth: „Da könnse sich wat rausreißen, Stift is och dabei, der ist von vorjem Jahr - Schnee von jestern!“ Ich sammle alles auf, sie verstaut es in der Tasche und kickt die Scherben weg. „Det kann die Stasi wegmachen, wa?“ freut sie sich, „und wozu hab ick nu die janze Bescherung anjerichtet? Der Mensch will dem Menschen behilflich sein, det is des Wichtigste! Und jetzt uffn Bier!“

Im Auto haben wir einen Rotkäppchen-Sekt und zwei Flaschen Rotwein, können für spärlichen Ersatz also erst mal sorgen. Nun ergibt sich aber ein neues Problem, sie erklärt: „Wir können nu mit die Flaschen nich inne Kneipe rin, da sindse komisch. Wißt ihr, was, jehn wa doch zu mir, da isset jemütlicher.“

Langsam gehen wir zwischen den Blocks entlang, einer ist offenbar in ein riesiges Wohnheim umfunktioniert worden, neben den Eingängen hängen Schilder, auf denen in typisch beamtendeutscher Imperativform untersagt wird, daß „Personen in verschmutzter Arbeitskleidung“ das Wohnheim betreten. „Da hamse die Ausländer rinjesteckt, Kubaner und Vietnamesen in Massen“, erklärt sie. Weiter hinten liegt eine Schwimmhalle mit großem Becken. Hinter der leicht beschlagenen Scheibe sieht man einige ältere Männer ruhig ihre Bahnen durchs blauschimmernde Wasser ziehen. Sie schwimmen in jener altmodischen Brustschwimmer-Manier, bei der schubweise der halbe Oberkörper aus dem Wasser auftaucht und wieder versinkt. Die Wohnanlagen hier - obgleich denen vorne ganz ähnlich - wirken schäbiger. Müll liegt herum, einige der Lampen sind zerschlagen, und auch das Licht in den Wohnungen und in den Eingangshallen scheint schlechter zu sein.

Das Haus, zu dem sie uns führt, ähnelt dem von vorhin, jedoch steht die Glastür weit offen. In der Halle hängt eine Urkunde, mit der die Hausgemeinschaft vor Jahren für vorbildliche Sauberkeit und Solidarität ausgezeichnet wurde. An den Fahrstuhlwänden sind allerlei Schweinereien eingeritzt und aufgeschrieben, daneben auch SS-Runen und Hakenkreuze. Im achten Stock schließt unsere Gastgeberin eine braune Holztür mit Spion auf und bittet uns hinein. Eine merkwürdige Geruchsmischung schlägt uns entgegen aus Zigarettenrauch, Urin und abgestandenem Alkohol. Der Hund von der Leine befreit - rast bellend herum und will uns in die Schuhe beißen. Es ist offenbar so, daß der allseits beliebte Vandalismus sich vorläufig noch in den eigenen vier Wänden austobt, das Wohnzimmer spricht dafür. Alles sieht aus wie mehrmals demoliert und wieder aufgestellt. Die 50er -Jahre-Couch, mit leicht glänzendem - ehemals grünem Noppenbezug ist an einer Stelle aufgerissen und wird vom Hund sorgfältig ausgeweidet. Den dazugehörigen Sesseln erging es auch nicht besser, an einem ragt nur noch der zersplitterte Stumpf von der ehemaligen Armlehne aus dem Polster. Der Couchtisch ist überhäuft mit Geschirr, vollen Aschenbechern und leeren Flaschen, und über den Teppich läßt sich nichts weiter sagen, als daß er vor Dreck starrt. Dazu läuft in voller Lautstärke ein kleiner Schwarz-Weiß -Fernseher.

„Setzt euch, nur keine falsche Bescheidenheit“, sagt die Frau und ergreift wahllos ein paar verkrustete Teller, „ick wollte ja eigentlich saubermachen, aber es kommt immer wat dazwischen..., ja, hier den Paß werd ick uff de Heizung lejen, der wird schon wieder..., und jetzt mach ick ne Pulle uff, damit wa anstoßen können uff die Bekanntschaft.“ Sie verschwindet in der Küche.

An der Wand steht einer jener braunen Aquariumschränke, in denen ordentliche Leute sonst ihre Sammeltassen, Nippsachen oder Zierteller präsentieren, hier hingegen ist hinter den trüben Glasscheiben staubige Leere. Dafür ist das darüberliegende Bücherfach prall gefüllt. Was da beisammensteht, wird jeden Westler sehr durcheinanderbringen: Raabe, Morgenstern, eine alte Ausgabe des Grünen Heinrich, Anna Seghers, Im Westen nichts Neues, Kohlhaas, ein paar Bände MEW und die Schriften von Rosa Luxemburg.

Sie kommt herein, vorsichtig drei Kristallgläser tragend und den Wein, sieht mich die Bücher betrachten und bemerkt: „Früher ham wir noch viel jelesen, als wir det verdammte Fernsehn noch nich hatten, nu kommt man zu nischt mehr... so, die Gläser sind frisch gewaschen, man weiß ja, was sich jehört...“ Sie schenkt randvoll ein: „So, jetzt will ick ma mit echten Westlern anstoßen, na sowas! Aber ick hab jesehn, ihr habts och nich leicht drüben, die Armen sitzen uff de Straße un betteln. Sowat siehste bei uns nich! Mein Sohn und icke, wir ham uns die 200 West jeholt, ick wollte ja nich, aber er sagt, er braucht 'nen Recorder für sein Gitarrenspiel. Det ist ja nur peinlich: Und was habe ick nun davon jehabt? Nich ma 'ne Tafel Schokolade, so teuer is allet. Aber ick saje mir, lass'n ma, der Junge is sonst janz in Ordnung.“

Die Klingel schrillt, sie springt auf und ruft aufgeregt: „Det isser, der kommt jetzt von Spätschicht. Na, der wird Augen machen.“ Statt mit dem zu erwartenden schlampigen Trunkenbold kehrt sie wenig später mit einem jungen Mann am Arm zurück, der mit schönen Gesichtszügen schüchtern lächelt, uns die Hand reicht und dann den Hund streichelt. „Ei, Eike, da kiekste blöde, wa? Wir ham Besuch, deine Mutter hat Besuch! Nu hol dir'n Glas, und setz dir her.“

Im Fernsehen läuft ein Fußballspiel - ich glaube, der 1.FC Köln spielt gegen Roter Stern Belgrad, wie auch immer -, der Sohn jedenfalls schaltet um auf DDR1 und sagt entschuldigend: „Ich will nur mal eben die Nachrichten sehn.“ Egon Krenz taucht auf, mit schwarz umschatteten Augen und bittersüßem Lächeln. Er hat heute alle seine Ämter verloren, den Vorsitz über Staatsrat, Partei und nationalen Verteidigungsrat. Ist nur noch einfacher Abgeordneter der Volkskammer. Amtierender Staatsratsvorsitzender ist nun Manfred Gerlach, Chef der LDPD.

Die Mutter ruft aus: „Ick jlobe, ick spinne, der ist doch och nich besser, was machen die jeden Tag für einen Scheiß da oben“, dann bricht sie plötzlich in Tränen aus und stößt schluchzend hervor: „Soll allet zugrundejehn? Wir sind doch och Menschen..., uff eenmal lassense keen jutet Haar mehr an der Suppe..., det kann doch nich allet schlecht jewesen sein von Anfang her..., det jlobe ick einfach nich! Wir ham doch och wat zu verliern, nich nur die da oben, oder nich...?“

Sohn: „Am liebsten würd ich den Kasten zertrümmern (zieht seine Turnschuhe aus und schleudert sie weg)... mit ner Axt möchte ich zuschlagen, diese Schleimscheißer, diese Schweine, diese feigen!“

Mutter: (flehentlich) „Nu willste och noch den Fernseher kaputt machen, denn steh ick janz alleene da, ohne allet! Und du schiebst ab in Westen, wa??“

Sohn: „Da scheiß ich doch drauf aufn Westen! Aber echt...“

Mutter: (ihn derb stoßend) „Du, nich so'ne Ausdrücke, ja! Du Arschloch!“

Sohn: „Laß man gut sein... da siehstes, jetzt sägen sie alle ab oben, suchen einen Astreinen mit weißer Weste. Aber den findense nich... und selbst wennse so einen finden, der ist dann garantiert kein guter Politiker, der kann ja nur doof sein. Besser, man nimmt ein ganz normal korruptes Schwein, dann kann man seine Fähigkeiten nutzen, der muß halt nur unter scharfer Kontrolle gehalten werden. Aber so wie die das machen... nee! Wo gibts denn sowas, die demolieren unseren Staat!“

Mutter: (weint wieder) „Det saje ick doch , det is ja so schlimm... und schuld daran sind die Sachsen!“

Sohn: „Nee, ick halt det im Koppe nich aus... hör doch uff zu flennen, ich mach das jetzt aus, den Scheiß!“

Die Mutter beruhigt sich etwas, trinkt einen großen Schluck und erzählt: „Ach Scheiße! Den Kleenen hier hab ick allene großjezogen von mein büschen Jeld, allet alleene. Und nu kiekten euch an! Isser nicht intellijent und een juter Mensch? Ick bin nur ne einfache Küchenhilfe, mach det janze Jeschirr weg inner Großküche von 2.000 Mann, ick habe nischt weiter jelernt, hab immer jearbeitet (weint wieder), allet jemacht für meinen Jungen, wat du Arsch! Isses nich so?“

Sohn: „Is ja gut, ich sage ja gar nichts... wenn's nur nich immer so keimig wär hier zu Hause...“

Mutter: (empört) „Keimig, Scheiße... ick wollte ja saubermachen heute abend, es ist was dazwischengekommen...“

Sohn: „Das sagste doch immer...“

Mutter: „Jetzt halt ma die Fresse, wenn deine Mutter redet: Ick wünsche mir nur, daßste nich in Westen gehst... (und zu uns) Ihr seid ja janz schön hart bei euch drüben, icke z.B. könnte sowat gar nich durchstehn, da ginge ick vor die Hunde in so einm System, det steht fest!... Und nu erzähl den Damen doch ma, was du arbeitest, Eike... er is nämlich fleißig, mein Junge...“

Sohn: (unsicher): „Na, wenn Sie's interessiert... also, ich bin Feinblechner innem kleinen Betrieb, wir machen da Sachen für Lüftungsanlagen, sowas, ich arbeite in Schicht, eine Woche Früh - eine Spät und eine Nachtschicht, immer abwechselnd. Hab meine 900, 500 leg ich weg, der Rest ist Kostgeld für die Mutter, ein bißchen was für Essen, Rauchen und Trinken... mehr brauch ich nich. Jetzt laß‘ ich mich umschulen auf Betriebsschlosser.

Und sonst... was im Betrieb so los is..., das is traurig. Alle laufen total neben der Mütze. Jetzt ham wir plötzlich Faschos, die rennen ja nun überall rum, auch hier draußen mußte aufpassen, daßte Abends von den Glatzköpfen in den Bomberjacken nich zusammengeschlagen wirst. Bei mir is parteimäßig nichts drin, ich stehe links... da stehste ziemlich alleine rum, nicht erst seit gestern, im Betrieb gibt's noch einen, dann is schon Schluß. Im Betrieb wird die ganze Zeit nur gelabert, auch die Alten lassen durchgehend die Eier schaukeln, sind für Wiedervereinigung, die sind fertig auf der Röhre, aber echt! Und die Jungen ham gar keine Meinung, machen abends den Harten, ham nur im Kopf, wie sie ne Kirsche anmachen können oder sich abfüllen, bis sie stocksteif sind. Total tot, die Leute! Aber bei euch drüben soll's ja noch schlimmer sein. Keine Ideale, alles dient nur der Belustigung... nee, das ist nich in Ordnung, das is nichts für mich. Aber was nu bei uns wird aus der ganzen Scheiße..., ich weiß es nich, jedenfalls bin ich gegen Vereinigung und die ganze Kapitalismusscheiße!“

Mutter: „Recht haste, mein Junge. Bleib du nur bei deiner Mutter... drüben gehste unter... hier vielleicht nich... ach nee, is det ne schreckliche Zeit jetzt... was solln wir denn nur machen...!“

Uns fällt nichts ein, womit wir sie trösten könnten, schreiben aber unsere Adresse auf und laden sie ein, uns zu besuchen, bedanken und verabschieden uns.

Unterdessen ist es fast Mitternacht, wir beschließen, nochmal nach drüben zu schauen, und als wir ankommen, strebt gerade ein Herr mit schwarzer Thälmann-Mütze auf den Eingang zu. Während er aufschließt und wir warten, spricht er uns an und weiß wiederum, wie durch Zauberei, zu wem wir wollen: „Kommen Sie mit, der Aufzug geht nicht“, und führt uns durch einen Notaufgang in den dritten Stock, dort wieder zum Aufzug. „Von hier aus geht er. Sie fahren bis zum letzten Stock!“ sagt er bestimmt und verschwindet in den Fluren.

Oben angekommen, finden wir nach einigem Suchen den abseits liegenden Treppenaufgang zum „Penthouse“ des Kulturschaffenden. Geräusche klingen durch die Tür, wir klopfen mehrmals beherzt, bis hinter der Tür gefragt wird, wer da sei. „Der Klassenfeind“, sagen wir mit tiefer Stimme, der Begehrte öffnet und ringt sich ein Lächeln ab: „Kommt rein... ich hab nur deshalb nicht aufgemacht, weil ich dachte, es sind Frauen...“ Wir beruhigen ihn auf der Stelle: „Keine Angst, wir sind's ja nur“, und er: „Du, Angst hab‘ ich ja gar nicht... es ist nur so, daß man mich manchmal verfolgt, sowas kommt vor, und ich will einfach nur meine Ruhe haben.“

„Damit isses jetzt vorbei“, sagt Eliesabeth, wir setzen uns an einen langen Tisch, der mit Büchern und Papieren überhäuft ist, ganz vorn ist noch ein freies Plätzchen für Aschenbecher, Gläser, Whiskyflasche und Fernbedienung. Der Kulturschaffende ist im Bademantel, auf der Brust hat er erstaunlich dichtes schwarzes Haar, das zur Mitte hin einen Steg bildet, ähnlich wie bei der Entenfrisur, die man machmal heute noch bei Proleten sieht. Er schenkt uns ein, zündet sich eine Zigarre an und starrt auf den Bildschirm, wo großformatig und in gestochen klaren Farben ein ziemlich schwülstiger David-Bowie-Film läuft.

„Na, wie war die Reise?“ fragt er ohne Nachdruck, wir berichten ein wenig, insbesondere von Mutter und Sohn zwei Häuser weiter. Allmählich kommt ein wenig Lebhaftigkeit auf, die geradezu feurig wird, ungeachtet der späten Stunde, als wir berichten, wie zwar im Theater der Name Müller so gut wie unbekannt sei, dafür aber hier im Hause offenbar in aller Munde. „Das waren Leute von der Stasi“, sagt er amüsiert, „das ganze Haus ist voll davon. Die haben einfach die alte Gewohnheit, mich zu observieren, noch nicht abgelegt, das machen sie jetzt freiwillig, in ihrer Freizeit.“ Auch die Aufzugsgeschichte klärt sich auf: Abends wird er auf den dritten Stock gestellt. Das ist eine Sicherheitsmaßnahme. Man befürchtet wohl, daß der blutgierige Mob eindringt zur Abrechnung, offenbar herrscht einige Panik.

Er erzählt, daß auch im Theater die Leute mit den Nerven fertig sind. Grade hätten sie einen Brief bekommen vom Gewandhaus-Orchester. Eine Antwort auf den offenen Brief, den die Schauspieler des Deutschen Theaters an Kohl gerichtet hatten. Damit ist das Leipziger Orchester überhaupt nicht einverstanden und findet es skandalös, daß man einem solchen Politiker, der gerade in Polen den Ehrendoktor verliehen bekam, nicht den verdienten Respekt erweise. So in etwa der Sinn des Schreibens. Wir erklären, daß wir eigentlich nur gekommen sind, weil wir ein Problem haben, daß wir nämlich auf der gesamten Reise keinen SED -Genossen kennengelernt haben. Wir halten das für einen Mangel, er nicht.

Dann aber deutet er auf ein Manuskript auf dem Tisch: „Hier, dieses Papier hat mir mein Nachbar neulich gegeben, es ist der Versuch einer, sagen wir mal, parteiinternen Fehleranalyse, mit der er sich abgeplagt hat. Er ist Professor an einem SED-Wissenschaftsinstitut und ein sehr netter Mensch. Seine Frau ist auch Genossin und Wissenschaftlerin, hat eine spanische Mutter, die im Bürgerkrieg mitgekämpft hat... also, die kann ich euch nur empfehlen, das ist so das DDR-typische Funktionärsehepaar mit großem Haßpotential. Ich glaub schon, daß sie mit euch sprechen, sagt eben, ich hab diesen Vorschlag gemacht.“ Er schreibt uns die Telefonnummer auf, dann verabschieden wir uns. Irgendwie melancholisch lehnt er an der Tür und lächelt zart mit seinem obszönen Mund. Dennoch, Mutter und Sohn gingen mehr ans Herz.

Am nächsten Abend rufen wir die Genossen an, es meldet sich eine Frau, und ich setze ihr den merkwürdig klingenden Wunsch nach spontanem Kennenlernen auseinander, in der Nacht müssen wir zurücksein, unsere Visa sind abgelaufen. Zu meiner Überraschung willigt sie sofort ein mit den Worten: „Also, wenn ihr grüne Heringe nicht gerade verabscheut, dann kommt und eßt mit uns.“

Nach den üblichen Schwierigkeiten stehen wir bald darauf vor der Tür, der Name ist in schräg geschittene Birkenscheibe eingebrannt. Die Frau, die öffnet, ist etwa so in unserem Alter, reicht uns die Hand und sagt schwungvoll: „Ich bin die Elli, das da ist unser Sohn. Du, Sascha, sei doch so lieb und spring schnell runter für ein paar Flaschen Saft und Selters..., aber beeil dich, in fünf Minuten machen sie zu!“ Der schwarzgelockte schöne Knabe steht stramm und ruft spottend: „Jawoll Genossin, wird erledigt!“

Sie wickelt die Heringe aus dem DDR-üblichen grauen Packpapier und betrachtet sie sinnend: „Der ist jetzt in einem Alter, in dem öfter mal Schwierigkeiten auftreten..., der Sascha. (Pause) Und ihr kommt also von Heiner..., dann kann man wenigstens damit rechnen, daß ihr vernünftige Menschen seid... (sie wäscht die Heringe). Das wundert mich nicht, daß ihr vierzehn Tage lang rumfahrt, ohne eine Genossen zu treffen. Viele traun sich jetzt nicht mehr, es zuzugeben, was man ja auch verstehen kann, bei der Pogromstimmung, die herrscht. Tausende treten aus oder sind schon ausgetreten... na, ihr könnt euch ja denken... und was habt ihr so erlebt bei uns?“

Wir erzählen, der Sohn kommt mit den Getränken zurück und setzt sich zu uns in die Küche. Als wir vom jungen Arbeiter erzählen und seiner Mutter, interessiert verständlicherweise weniger die Verzweiflung als der Zustand des Betriebes. „Ach, das ist ja gerade das Schlimme, daß in den Betrieben alles drunter und drüber geht. Die Leute warn ja vorher schon langsam, aber nun arbeiten sie gar nichts mehr, gerade jetzt aber müssen wir das Leistungsprinzip durchsetzen“, sagt sie, dabei die Fische würzend, und der Sohn erwidert: „DU bist doch gar nicht produktiv!“ Sie betrachtet ihn, läßt die Fische sinken: „Was meinst du damit? Willst du sagen, daß deine Mutter ein faules Schwein ist, oder was“, fragt sie spitz. „Nee, aber du arbeitest ja nich in der Produktion, is doch so, du bist 'ne Intellektuelle und redest über die Arbeiter wie ein Boss..., das meine ich!“ entgegenet er trotzig. Doch bevor sich das Geplänkel zu einem Streit auswachsen kann, klappt draußen die Wohnungstür. „Das ist der Gerd. Jetzt bin ich mal gespannt, ob er die Sachen vom Metzger mitgebracht hat, um die ich ihn gebeten habe..., das ist nämlich immer so ein Problem mit ihm“, erklärt sie verschwörerisch.

Herein kommt ein leicht untersetzter Mann, ein wenig ergraut, so Anfang der Fünfzig. Sie erklärt ihm schnell unsere Anwesenheit und unser Anliegen, nimmt ihm das Paket aus der Hand, küßt ihn innig und ruft entzückt aus: „Du hast es also nicht vergessen! Wo hast du's eingekauft, im Westen?“ Er drückt uns fest die Hand, deckt den Tisch, und während die Fische braten, plaudern wir ein bißchen. Sie beugt sich über ihn und fragt: „Wo ist denn deine Brille? Warte, ich hol sie dir“, putzt sie hingebungsvoll. Die Gesten wirken fast wie eine Parodie weiblicher Unterwürfigkeit. Er setzt die Brille auf ohne ein Zeichen von Dankbarkeit.

Das Essen ist fertig, ein kleineres Mädchen kommt, die Tochter. Sie ist etwas mißgestimmt, hat Ekzeme an beiden Armen. Die beiden Kinder bekommen ihre Teller gefüllt und sollen nebenan essen wegen Platzmangel, was sie mit Vorliebe tun.

Danach eilen alle nach nebenan ins Wohnzimmer, um die Nachrichten zu sehen. Hier herrscht funkelnde Sauberkeit und Ordnung. Blattpflanzen, moderne Sessel, verteilte Lichtquellen usf. bilden ein anspruchsvolles Ensemble, eigentlich so, wie man es von uns auch kennt. Die Nachrichten klingen für unsere Ohren nicht sonderlich dramatisch: Der Runde Tisch hat heute seine Debatte eröffnet, ein Wahltermin steht noch nicht fest, auch nicht, was man mit dem Amt für Nationale Sicherheit machen wird. Der frühere Stasi-Chef Mielke hat ein Ermittlungsverfahren bekommen. Elli sitzt verkrampft vor dem Bildschirm und ruft beschwörend: „Kinder, ihr werdet sehn, es wird Blut fließen, Köpfe werden rollen, da bin ich ganz sicher! Ich sage euch, spätestens in drei Wochen haben wir Bürgerkrieg... ich hoffe nur, daß wir Weihnachten noch in Frieden feiern können.“ Gerd schweigt. Sie fährt fort: „Ich habe richtige Existenzängste, der Gerd wird möglicherweise arbeitslos. Am liebsten möchte ich meine Kinder nehmen und mit ihnen nach Spanien gehen. Ich fühl‘ mich richtig schuldg, daß ich sie hineingeboren hab‘ in so eine Welt!“ Gerd schweigt - er ist nicht der Vater - und schlägt dann vor in die Küche rüberzugehen, dort sei's gemütlicher.

Mit jenem merkwürdigen Räuspern, Schlucken und Pausieren, das ich bei vielen DDR-Intellektuellen bemerkt habe, beginnt er zu erzählen: „Ich weiß ja nun nicht, was der Heiner euch schon als Vorinformation gegeben hat... also, ich arbeite seit 17 Jahren als Ökonom in einem wissenschaftlichen ZK -Institut der SED und stehe nun vor einer vollkommen unklaren Situation, was die Weiterexistenz des Instituts betrifft und ganz allgemein. Also, was wollt ihr jetzt genau von mir wissen?“

Ich: „Wie du mit den Widersprüchen fertig wirst, falls man das überhaupt kann...“

Gerd: „Mit den alten oder mit den neuen?“

Ich: „Mit denen zwischen dem Alten und dem Neuen.“

Gerd: „Wie das geht, dafür kann ich ein gutes Beispiel geben. Früher war das so, es gab die offizielle Meinung und die Parteidisziplin, daneben gab es noch die private Meinung. Man hat ja jeden Satz, der irgendwie abwich, mit der Bemerkung eingeleitet: Das ist meine private Meinung..., falls man überhaupt etwas derartiges geäußert hat. Es war je im Kopf bereits die Zensur fest installiert, und ganz automatisch formt sich da mancher Gedanke gar nicht erst.

Heute trenne ich nicht mehr! Ich stelle, was ich sage, zur Diskussion, versuche es zumindest. Doch dabei stößt man bereits auf Probleme. Nicht nur deshalb, weil das nicht aufgenommen würde von den anderen, das Problem entsteht schon früher, wenn du nämlich entdeckst, daß du gar keine Sprache hast, nur den alten Jargon. Und was du mit eigenen Formulierungen auszudrücken versuchst, wirkt hilflos, so unabgesichert, unverbindlich und letztlich auch belanglos, daß man es sich selbst nicht glauben kann. Eine Übereinkunft, sprachlich gesehen, aber auch inhaltlich, gibt es noch nicht, nicht einmal für einen selbst.

Elli: (triumphierend) „Siehste Gerd, das Problem habe ich nun gar nicht. Vielleicht weil ich eine Frau bin! Mir war das immer schon zu formal, diese Leblosigkeit und Abstraktion in der Sprache. Nun schlägt mir genau das zum Vorteil aus..., dabei hast du mir das immer vorgeworfen, daß ich zu spontan sei, zu emotional. Aber schon vom Sprachlichen her...“

Gerd: (sie vollkommen ignorierend) „Ich beobachte das Problem ja auch an meinen Kollegen, den Professoren, die mit dem technischen Bereich zu tun haben. Die retten sich jetzt in die westlichen Fremdsprachen, in einen High-Tech-Jargon und glauben, das sei objektiver, fortschrittlicher.

Es ist so am Institut, es herrscht eine totale Orientierungslosigkeit, die Leute trinken, haben echte Psychosen. Nun hat man sich was einfallen lassen, eine psychologische Beratung. Du denkst, du kannst dich da mal aussprechen bei sachverständigen Leuten, schlimmstenfalls als Patient Behandlung finden, aber weit gefehlt! Da sitzen drei Figuren nebeneinander auf einem erhöhten Podest und du davor. Aus der Art dieser Anordnung kannst du sofort schließen, daß man hier nicht Mut zuspricht sondern Urteile. Die lernen es nie... nie!“

Elli: (legt ihre Beine hoch, die Füße leicht in seinem Schoß bewegend) „Aber die haben natürlich auch Angst vor dem totalen Machtverlust, und nun sind sie in Panik, werden gefährlich, schlagen um sich, und das ist dann das, was uns wieder angst macht...“

Gerd: (Elli zerstreut, aber ausdrücklich von seinem Schoß wischend) „Die Leute haben Angst, weil nicht nur die Existenz der Partei auf dem Spiel steht, sondern auch die Existenz des Kommunismus, die ihrer Weltanschauung. Die Unsicherheit erfaßt ja alle Arbeits- und Lebensbereiche, denn das eigentliche Problem ist: niemand in dieser DDR war mehr Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse. Vom Ministerpräsidenten bis hinunter zur Köchin waren alle nur Transmissionsriemen in der Mechanik des starren Systems..., und das ist wahrhaftig keine beglückende Erkenntnis.“

Elli: „Trotzdem... irgendwie ist unsere Ehe durch diese Umwälzungen enger zusammengewachsen... bei aller Hoffnungslosigkeit (Pause) Also der Gerd, nich wahr, du hast immer noch ein wenig Hoffnung gehabt bis zu dem Moment, als wir das erste Mal drüben im Westen waren und du mit eigenen Augen gesehen hast, wie unsere Leute in Trance fallen und nichts anderes mehr wollen als den Scheiß-Konsum, die 60 Käsesorten usw. Alles andere ist ihnen jetzt egal!“

Gerd schweigt, steht dann auf und bringt uns ein Papier, es sei erst einmal rein für private Zwecke, aber vielleicht nutze es uns ja zu einem besseren Verständnis. Wir verabschieden uns, versprechen, in Verbindung zu bleiben. Beim Abschied, als wir schon im Lift stehen, sagt Gerd nicht ohne Genugtuung: „Privilegierte wie der Heiner, die haben ja eigentlich von der Mauer gelebt..., und was wird nun?“ Er streckt uns die Hand entgegen, und gleich darauf klemmt ihm die zusausende Lifttür fast den Arm ab.

Soll man nun lachen oder weinen? Als wir nach Mitternacht zu Hause ankommen, sind nur die Hunde vollkommen begeistert. Wir hingegen tappen fremdelnd durch unsere Wohnung und packen dann das Honecker-Bild aus.

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