piwik no script img

Die Kuh vom Eis geholt

■ „Berlin Alexanderplatz“ in Mönchengladbach

Vielleicht geht große Kunst nie ganz auf. Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz ist große Kunst und ein wuchtiger, kantiger Brocken Literatur. Erzählt wird die Geschichte von Franz Biberkopf, einem ehemaligen Sträfling und einfachen Transportarbeiter..., aber: Hier steht kein ehrpusselig -rührendes Opfer der Verhältnisse a la Falladas Kleinem Mann, in diesem Franz Biberkopf treffen sich große, verführbare Gutmütigkeit, Dumpfheit, Aggression und eine Anfälligkeit fürs „Millieu“. Biberkopf wird - hier setzen Roman und Theater an - nach vier Jahren Haft wegen Totschlags aus dem Zuchthaus Tegel entlassen und will nun anständig werden.

Er schlägt sich als Straßenhändler und Zeitungsverkäufer durch, bis er von einem Freund gelinkt wird und den Halt verliert. Er wird in einen Raub verwickelt, eines Mordes verdächtigt, den er nicht begangen hat, für diesen Mord verhaftet: Die schiefe Bahn führt direkt in den Abgrund. Schließlich erleidet Biberkopf einen Zusammenbruch, kommt in die Klapsmühle - und dort läßt Döblin ihn wieder auferstehen. Der Held tritt, gerichtlich rehabilitiert, erneut ins Leben, wird Hilfsportier, übt sich in Demut und Bescheidenheit, will nun die wahren Freunde suchen und mit ihnen das Schicksal meistern.

Dieser Schluß ist schief. Döblin manipuliert seinen Roman zu einem Lehrstück; die Einsicht Biberkopfs im Irrenhaus („ich bin an allem schuld, ich muß erkennen“) ist eine Zangengeburt. Aber das Strukturproblem des Theaterabends ist ein anderes: Berlin Alexanderplatz bildet mit Joyces Ulysses (1922) und Dos Passos‘ Manhattan Transfer (1925) das klassische Dreigestirn der ersten Großstadtromane in der Weltliteratur unseres Jahrhunderts. Der Expressionist Döblin bricht die lineare Erzählprosa radikal auf und collagiert Straßenszenen, Bibelzitate, Werbeslogans und Statistiken zu einem furiosen Szenario zusammen: Eine Stadt erzählt sich selbst. Wie erzählt sie sich auf der Bühne?

Eike Gramss, Intendant der vereinigten Bühnen Krefeld/Mönchengladbach, hat die Theaterfassung erstellt (nicht die einzige dieser Vorlage übrigens) und die Regie übernommen. Er hat die Kuh aufs Eis geführt und will sie in drei Stunden und vierzig Minuten wieder herunterholen. Die Theaterfassung: kein Satz, der nicht dem Roman wörtlich entnommen wäre. Eine Kunstfigur, der „Passant“, bindet die Szenen aneinander, wirft die Großstadtfetzen in Form von Wetterberichten, Zeitungszitaten, Verlautbarungen und so weiter hinein. Bühnenbildner Eberhard Matthies hat auf der wahrlich nicht großen Bühne Mönchengladbachs ermöglicht, sowohl lärmende Straßensituationen zur Wirkung zu bringen als auch ein abruptes Verstummen des leeren Raums, in dem nur noch ein Einzelner spricht; die Aufführung ist eine Meisterleistung technischer Choreographie.

Dennoch gehört dieser Abend ganz den Schauspielern, unter ihnen vor allem Biberkopf Markus John: Wie er eine Frau auf dem Küchenboden vergewaltigt und Tulpen sorgsam in eine Vase steckt, während das Opfer sich mühsam wieder aufrichtet; wie er seine Freundin in einem Eifersuchtsanfall halbtot prügelt und dumpf und fassungslos darunter leidet; wie er, einem Kleinkind gleich, erschrickt unter den Schlägen, die andere ihm zufügen, und prahlt mit eigener Kraft, die er gegen andere richtet. Markus John ist in einer Weise groß, die seine Mitspieler nicht distanziert und hemmt, sondern zu Sequenzen atemberaubender Dichte führt. Als er um 23 Uhr 40 die letzten, verquasten Lehrsätze Döblins spricht, geht großes Theater zu Ende, das, wie der Roman, nicht ganz aufgeht.

Frank Schmitter

Die nächsten Aufführungen sind am 11., 12.,17. und 18. Februar.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen