: Öffnung zur parlamentarischen Demokratie?
Der Beschluß des ZKs der KPdSU zur Änderung des Artikels 6 ■ K O M M E N T A R
Früher sprach man von Gesetzmäßigkeiten beim Aufbau des Sozialismus. Sollte es sein, daß die eigentlichen Gesetzmäßigkeiten seine Abschaffung betreffen? Die polnische 'Gazeta Wyborcza‘, der diese Sentenz entnommen ist, hat die wie ein Fatum ablaufende Kette von Ereignissen im Sinn, die in Ostmitteleuropa von der vorsichtigen Relativierung des Machtmonopols bis zur Auflösung der Staatsparteien reicht. Fast scheint es, als hätten die Mitglieder des sowjetischen ZKs diesen Luftzug der Geschichte im Rücken gespürt, als sie über den Artikel 6 der Verfassung berieten. Eigentlich war die ersatzlose Streichung des Artikels erwartet worden. Beschlossen aber wurden Formulierungen, aus denen man herauslesen kann, daß die KPdSU auch künftig ein Recht auf Mitregierung beansprucht. Entscheidend aber ist die Formel des Rückzugs - keine festgeschriebenen Ansprüche mehr an die Gesellschaft. Gerade hier aber liegt das Problem und die Differenz zu den Demokratisierungsprozessen in Osteuropa. Dort bildeten sich alternative politische Koalitionen, die ihre Basis in jenen gesellschaftlichen Netzwerken haben, die in Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht entstanden sind. Der Widerstand in Ostmitteleuropa speist sich aus den Quellen vielgestaltiger bürgerlicher Institutionen und Initiativen, aus den Traditionen der „Bürgergesellschaft“. Deren Fehlen in Rußland hat schon Antonio Gramsci zur Grundlage seiner berühmten Unterscheidung zwischen dem Westen und einem Rußland gemacht, in dem der Staat alles, die Gesellschaft aber nichts sei.
Nicht umsonst haben sowjetische Theoretiker der demokratischen Bürgerbewegung wie Rumjanzew oder Ambarzumow die Herausbildung der civil society zur Vorbedingung eines demokratischen Verfassungsstaates erklärt. Wie stark aber sind jene unabhängigen sozialen und Bürgerbewegungen in der Sowjetunion, auf denen ein pluralistisches Parteiensystem aufbauen könnte? Die KPdSU war tatsächlich, wie es in der Breschnewschen Verfassung hieß, der „Kern“ der autoritär verfaßten Gesellschaft und ihres Staates. Viele Zeichen weisen darauf hin, daß nicht ein funktionierendes Parteiengefüge an die Stelle des Parteistaats treten wird, sondern ein plebeszitär verfaßter, charismatischer Führerstaat.
Christian Semler
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