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Starrummel und Run gen Osten

Über die Sucht westlicher Politiker sich mit Havel, Mazowiecki und Dubcek knipsen zu lassen  ■ G A S T K O M M E N T A R

Zu den größten Gefahren für die Völker Osteuropas, gerade befreit von der erstickenden Umarmung der Sowjets und ihrer Statthalter, gehört die nun genauso gewaltsame Umarmung durch Legionen daherstürmender westlicher Polit-Touristen. Die demokratischen Revolutionen zwischen Elbe und Donau geraten immer mehr zu lockenden Schauplätzen für den Exhibitionismus und den Starkult rummelsüchtiger Ostlandfahrer auch aus den höchsten politischen Etagen. Orgien der Eitelkeit, so verbreitet mittlerweile, daß zum Beispiel Frankreichs Staatschef Mitterrand, selbst auch kein schlechter Selbstdarsteller, seinen wie immer phantasiestrotzenden Kulturminister Jack Lang rüffeln mußte, weil der ohne irgendwelche Absprachen mit seiner Regierung wie ein Blitz in Prag eingefallen war, um dem neuen Staatspräsidenten Vaclav Havel irgendeinen Preis zu überreichen. Die Sucht, sich heute mit Havel, morgen mit dem polnischen Premier Mazowiecki und übermorgen wer weiß mit wem Berühmtem im Osten fotografieren zu lassen, hat längst dazu geführt, daß bei vielen Politikern die grundlegenden Probleme in den Hintergrund geraten und die ungeheure Angst, die traumatischen Anstrengungen der Völker zur Selbstbefreiung geradezu konterkariert werden.

Das sind keineswegs nebensächliche Beobachtungen. Sie belegen nämlich nicht nur einen perversen, ins nur noch Theatralische gewendeten Begriff von Politik, sondern auch die weitgehende Hilflosigkeit der Westeuropäer, ihrerseits außer mit den sowieso kaum mehr lösbaren internen Problemen nun auch noch mit dem Bankrott des Realsozialismus fertigzuwerden. Zu Dutzenden stolpern die Staatsleute über die alte Doktrin der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten“, wo diese längst nach Einmischung rufen und nur mit einer schnellen und undogmatischen Hilfe wenigstens die dringenden Probleme lösen können. Statt dessen beschränken sich die Westler vor allem auf Rhetorik und relativ selbstverständliche Gesten: die pompöse Feier Dubceks in Straßburg, die Schaffung einer Europäischen Bank zur Sanierung des Ostens, die Garantie von Krediten für Polen und Ungarn. Mehr aber auch nicht. Die OECD-Staaten haben der Europäischen Kommission die ehrenvolle, vor allem aber politische Aufgabe übertragen, eine einheitliche Strategie für wirtschaftliche Osthilfen durch die Industriestaaten des Westens auszuarbeiten.

Hervorragend. Doch wie sieht das nun in der Praxis aus? Regierungen und deren Führer sausen um die Wette hin und her, alle offenbar von der manischen Furcht besessen, irgendwelche Meriten mit anderen teilen zu müssen, und allesamt völlig unfähig, die Bedürfnisse der einzelnen Staaten zu analysieren, geschweige denn zu erkennen, daß vieles im Osten nicht nur eitel Freude an der Befreiung ist, sondern auch Angst, Konflikt, Unsicherheit; unfähig auch einzuschätzen, welche Fragen vor allem mit ökonomischen Mitteln gelöst werden müssen und welche mit politischen. Die deutsche Frage ist zum Beispiel vor allem ein politisches Problem, der Run auf die Ökonomie ist da wenig hilfreich: Zu lösen haben werden sie vor allem Kohl, Mitterrand und Gorbatschow.

Doch auch hier die übliche Konfusion - den Europäern gelingt es nicht einmal, ihren Gorbatschow einigermaßen gemeinsam einzuschätzen und herauszubringen, ob sie ihn als Gefangenen der ethnisch-nationalistischen Fragen ansehen, als Verfolgten der revanchistischen Rechten, als Objekt eines drohenden Militärputsches oder als denjenigen, der das alles wegsteckt.

Wenn die Westeuropäer, allesamt, so weitermachen wie bisher - und es steht zu befürchten, daß sie das tun -, stehen sie bald selbst politisch und moralisch handlungsunfähig da; und nicht nur gegenüber dem Osten.

Enzo Bettiza

Der Autor ist Osteuropaspezialist und schreibt regelmäßig Leitartikel für die industrienahe italienische Tageszeitung 'La Stampa‘.

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