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Leidgedanken eines DDR-Menschen

■ Unglaubliche Vielfalt in der DDR-Gründerzeit: Alle sind sie Deutschlandeinigvaterlandsozialmarktwirtschaftökologisch

Man kommt einfach nicht mehr hinterher. Eine ganze Ewigkeit lang passierte gar nichts, und man hoffte doch so sehr, daß endlich was passieren möge - aber jetzt? Jetzt kommt man einfach nicht mehr nach. Also, schon die Wende damals: Keiner wußte doch, wie man sowas anstellt. Da kehrte mancher sein Innerstes nach außen und war plötzlich verschwunden. Einfach weg! Denn bei ihm drinnen war das blanke Nichts. Daß das auf die Dauer keine Lösung sein konnte, wurde den meisten ziemlich schnell klar; schließlich verschwanden ja auch so schon viel zu viel Leute aus unserer real existierenden Existenz. Kurz - man mußte zu einer subtileren Art des revolutionären Fortschritts übergehen, der des allgemeinen Rücktritts. Allerlei Minister traten nun zurück, Fußballtorwarte, Kleingartenspartenvorsitzende und deren dritte Stellvertreter, Rats- und Unratsvorsitzende, Straßenbahnobermeister, Gummibaumliebhaber und Vereinskassierer; selbst meine Freundin Beate trat zurück von mir. Daß solcherart Rückbewegung nicht immer ganz komplikationslos verlief, läßt sich denken; so trat zum Beispiel ein Schauspieler des (Ost-)Berliner Deutschen Theaters nach dem Verlesen einer der damals landesüblichen Resolutionen lediglich einen Schritt zurück - und fiel in ein klaftertiefes Bühnenloch. Wenn er tags darauf trotz Gipsbein wieder auf der Bühne stand, so zeigte das nur, daß es unter den Zurückgetretenen Leute gab, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatten und auf keinen Fall von der Bildfläche verschwinden wollten.

Seit Dezember nun ist die Deutsche Demokratische Revolution in eine neue Phase getreten - in die der Gründerzeit. Da werden auf Deibel komm raus Parteien gegründet, Vereinigungen zur Gründung von Parteien, Initiativgruppen zur Gründung von Vereinigungen und wasweißich noch alles mein Gott! Über einhundertfünfzig Gruppen und Grüppchen gibt es mittlerweile, und ein Ende der Flut ist nicht abzusehen.

Warum auch? Der Mensch als solcher ist nun mal verschieden, und da kann er doch nicht irgendeiner schon bestehenden Vereinigung beitreten. Wo bliebe denn da der persönliche Individualismus oder wie das Ding heißt! Also wird gegründet und gegründet. Kost‘ ja nix. Studiert man allerdings die Programme - oder das, was dafür ausgegeben wird -, stößt dem Leser eine merkwürdige Übereinstimmung auf. Die LDPD zum Beispiel ist konsequent Deutschlandeinigvaterlandsozialmarktwirtschaftökologisch eingestellt, die CDU ist ebenfalls Deutschlandeinigvaterlandsozialmarkt... etc. Und die NDPD, FDP, DSU, FVP, PVP, DSP, CSDP, SPD ...? - Genau! Alle, alle sind sie Deutschlandeinigvaterlandsozialmarktökologisch welch ein Unterschied! Und alle betonen sie - wer wollte das auch bezweifeln -, sie seien Parteien der Mitte. Der zur Zeit leider verstorbene Kabarettist Werner Finck wollte dereinst mal eine „Partei der radikalen Mitte“ gründen. Bloß eine! Schade, daß er das heute nicht mehr erleben darf.

Bei einem solch opulenten Angebot an Mitte ist es nur zu verständlich, daß bei den Vereinen jeder Couleur die Mitglieder a bisserl knapp werden. Also betreibt man Werbung. So hat beispielsweise die Fortschrittliche Volkspartei (FVP) am 10. Januar 1990 ein Faltblatt verteilt, in dem gleich eine vorgedruckte Beitrittserklärung beigefügt war. Man brauchte bloß noch Name, Adresse und das monatliche Nettoeinkommen (!) einzutragen, um sich dann per Unterschrift zur Anerkennung des Statuts vom 27. Januar 1990 (!) zu verpflichten. Wie praktisch!

Was tut man nun als geplagter DDR-Mensch, der ja von diesen Parteien und Vereinen mit aller Macht an die Wahlurne geschleift werden soll, was macht man da mit so viel Parteien der Mitte, wo nix drumrum is? Richtig! Man gründet eine Partei - eine Partei, die ganz, ganz anders ist. Nur muß man sich damit ein wenig beeilen, sonst schafft man den Sprung in die nächste Phase der Revolution nicht mehr und ist noch immer mit dem Gründen beschäftigt, während sich die anderen schon munter spalten.

Aber das sagte ich ja schon eingangs: Man kommt heute kaum noch hinterher.

Olaf Kampmann

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