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Viertel-Spießertum

■ Betr.: „Viertelbürgermeister droht mit Rücktritt“, taz 7.2.

Liebe Viertelbewohner, bei der Lektüre solcher Artikel befällt mich neuerdings immer häufiger ein flaues Gefühl in der Magengegend, das sich bei fortgesetztem Nachdenken über das Gelesene durchaus schon zu einem handfesten Brechreiz entwickelt hat. Nicht, daß ich etwas gegen Verkehrsberuhigung etc. habe, aber bei bestimmten Formen von „Bürger(licher) Selbsthilfe“ schwillt einen mittlerweile doch der Kamm. Neben der Humboldtstraße und der Roonstraße gehört inzwischen auch die von allen so geschätzte Feldstraße zu diesem Krähwinkel des alternativen Bremer Spießertums.

Folgendes begab sich am 19.Januar 1990 in einer ganz normalen Kneipe in der Feldstraße: Life-Musik gehört durchaus zum kulturellen Wochenendangebot bestimmter Kneipen im Viertel. Gegen 22.45 Uhr erschienen zwei Polizisten, die sich beim Wirt - so konnte man vermuten - auf Anruf eines Anwohners nach der Rechtmäßigkeit des Auftritt von Saxophon und Gitarre erkundigten. Nach wenigen Minuten verließen die „Dezibel-Hüter“ freundlich grüßend die Kneipe. Etwa eineinhalb Stunden später flog wie in einem mittelmäßigen Western die Kneipentür auf und ein gewisser Dr.F. stürzte herein; er schlug, bevor er von den Gästen daran gehindert werden konnte, auf die Musiker ein, brachte dem Saxophonisten an Kopf und Hand Wunden bei, zertrümmerte die Gitarre, zerfetzte Noten und stieß wilde Drehungen und Beschimpfungen des Tenors aus, dieser Lärm sei Terrorismus, er müsse schlafen, weil er morgen (Sonnabend!) einen harten Arbeitstag habe. Der Rest ist unerheblich... Im Prinzip gegen Selbsthilfe nichts einzuwenden, doch wird mir mittlerweile von einigen Leuten allzu häufig Selbsthilfe mit Selbstjustiz verwechselt. Insbesondere habe ich den Eindruck, daß das puschelige „Viertel“, das sich inzwischen ja auch schon sehr viel vornehmer „Quartier“ nennt, von diesen Schnarchsäcken besonders durchgesetzt ist. Noch vor etwa fünfzehn Jahren scharrten viele dieser heutigen Ruhe -und Ordnungsfanatiker in irgendwelcher studentischen Kadern unruhig mit den rrrevolutionären Stiefeln, heute ziehen sich dieselben Leute ab viertel vor elf die „Michelmütze“ über den Kopf.

Wolf D. Klatt

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