: EHRENWERTES ENGAGEMENT
■ Die alternative Reisefamilie im Plausch auf der „Lernbörse Reisen“ / Kontroversen wurden glattgebügelt
Auf dem Bonner Venusberg fand Ende Januar zum siebten Mal der Markt der alternativen Reisemöglichkeiten, die „Lernbörse Reisen“, statt. Erneut diskutierte die „Szene“ die bekannten Themen um den „sanften Tourismus“, kontaktierte sich intern in Dauergesprächen und eruierte neue Chancen im Marktbereich. Der DDR-Tourismus entwickelte sich unter allen Themen zum heimlichen Renner. Nur bei wenigen TeilnehmerInnen zeigten sich Sorgenfalten über den einsetzenden touristischen Ausverkauf der DDR. Insgesamt war ein starkes Informations- und Kontaktbedürfnis in der Kleinveranstalterszene auszumachen; sie sucht fieberhaft nach Zugangswegen zur DDR sowohl in kommerzieller Hinsicht als auch in pädagogischer Austauschabsicht im Jugendreisesektor.
Aber trotz der Brisanz und des immensen Klärungsbedarfes war der DDR-Tourismus nicht das offizielle Hauptthema. Diese Chance wurde vertan. In den zahlreichen Arbeitsgruppen herrschte die übliche verwirrende Themenvielfalt; im Gesamtrahmen lag der Schwerpunkt auf Überlegungen zu einem „sanften Jugendtourismus“.
Über diesen sogenannten sanften Tourismus besteht immer noch große Unklarheit. Daß er umweltverträglich und sozialverantwortlich sein soll, gehört - bei aller Vagheit der Formulierung - inzwischen zur bewußtseinsmäßigen Grundausstattung im alternativtouristischen Bereich. Im konkreten Einzelfall jedoch gehen die Meinungen auseinander, wie die Diskussionen um Modellversuche und Konzepte (u.a. „Sanfter Sommer Saar '89“) zeigen. Während sich über „Umweltverträglichkeit“ relativ leicht Konsens herstellen läßt, erweist sich die „Sozialverantwortlichkeit“ als ein sperriges Thema, denn sie läßt sich schlecht auf einen quantifizierbaren und vergleichbaren Orientierungsmaßstab festklopfen - und bleibt dadurch dehnbar wie ein Gummiband.
Die Organisatoren der Lernbörse näherten sich der sanften Thematik indessen auf spielerische Weise. Sie initiierten eine Art Parlamentsspiel, in dem unterschiedliche Fraktionen zum Brainstorming für eine Gesetzesvorlage „Sanfter Jugendtourismus“ angeregt wurden.
So interessant sich der Spielverlauf phasenweise entwickelte, so erschreckend war es, daß sämtliche Mitspieler ihr eigentliches Subjekt, die Jugendlichen selbst, durchgängig ignorierten. Selbst der „Fraktion der Reisenden“ entschlüpften keine Wünsche nach Selbstbestimmung oder persönlichem Entfaltungsspielraum im Urlaub. Die Zeiten emanzipatorischer Ideen sind für die sanften Experten offensichtlich schon lange vorbei. Reglementiert und verplant, dirigiert und verklausuliert - so haben sich jugendliche Zuhörer nach dieser Veranstaltung wahrgenommen.
Gegen Ende der Lernbörse verschaffte sich jugendliche Authentizität in anderer Form Ausdruck. „Dancefloor '90“ war die Veranstaltung betitelt. Sie war als Versuch konzipiert, die VeranstaltungsteilnehmerInnen für jugendliches Lebensgefühl zu sensibilisieren. Mit spürbarer Sympathie für jugendliche subkulturelle Milieus führte der Moderator seine Zuhörer durch die neuesten musikalischen Trends und Moden „unterhalb der Hitlisten“. Das bereitete nicht nur Vergnügen, sondern war auch hoch informativ.
Der „sympathische Leitungsstil“ (einhellige Teilnehmermeinung) garantierte einen reibungslosen und erfolgreichen Veranstaltungsverlauf. Eine aufflackernde Kontroverse, die sich am Doppelengagement eines Teilnehmers (im ADAC und in einer tourismuskritischen Gruppe) entzündete, wurde glattgebügelt, denn Aufmüpfigkeit war im Programm nicht vorgesehen. Die alternative Reisefamilie plauschte unter sich.
Christel Burghoff Parlamentarisches Spiel
„Wo soll ich bloß hin?“ - Hilde B., eine der 200 Lernbörse -ParlamentarierInnen ohne festes Mandat, ist orientierungslos. Gilt es doch, sich für eine der sechs Fraktionen zu entscheiden, sich als Wissenschaftlerin, Reiseleiterin, Ausbilderin oder Reisende zu bekennen. Und wer setzt sich schon gerne zwischen die Stühle? Ohne gruppenhydraulischen Puffer, nur sich selbst und ihrem eigenen Gewissen überlassen, löst auch Hilde B. diesen Identitätskonflikt mit dem wahren Ich.
Ab geht's in die Fraktionsberatungen, die schon erste Schlaglichter auf die anschließende Plenumsdebatte werfen: In der Fraktion der Tourismuskritiker - erinnern wir uns noch einmal reumütig an die Zeiten, da diese als Chaoten verschrien waren - erschlägt der Fraktionsvorsitzende jede mögliche rotzige Provokation seiner Hinterbänkler mit einem bereits dezidiert vorbereiteten Forderungskatalog.
Kreatives Chaos herrscht dagegen bei den Jugendreiseveranstaltern. Die Entzerrung und Verlängerung der Sommerferien auf drei Monate wird später eine breite Mehrheit finden.
Die erlesene Forscherfraktion ventiliert das Problem derweil „unter besonderer Berücksichtigung von...“ und „zieht in Betracht, daß...“. Der einzelne Herr, der sein Haupt schnarchend auf der Tischplatte abgelegt hat, wird ding-dong - von einer näselnden Lautsprecherstimme aufgeschreckt: „Die Fraktionen bitte ins Plenum.“
In fünfminütigen Statements würgen die einzelnen Fraktionen ihre meist sattsam bekannten, nur selten originellen Forderungen in das Korsett staatsmännischer Machbarkeit. Das Plädoyer der Ausbilder löst allgemeine Heiterkeit aus. Von einem unabhängigen Expertengremium („Pfui!“) möge ein Ausbildungsplan erstellt werden, nach dem die Reiseleiter dann sahnesanft von eben jenen Didaktikern geschult werden („Ha, ha, ABM-geil, was?“). Es droht inhaltlich zu werden, denn „der Deal mit der DDR, das ist unsere große Chance, äh...“, doch die Redezeit ist rum.
Nun hat die Wissenschaft das Wort. Auch die Forscher wollen eine Expertenkommission. Allerdings eine systematisch denkende, interdisziplinär, multinational und vor allem anwendungsorientiert („Bravo!“). Eine dritte Expertenkommission fordern die Reiseleiter - außerdem brauchen sie 'ne soziale Absicherung in ihrem Beruf. Expertenkommission Numero vier verlangen die Tourismuskritiker, die sich für integrierte Fremdenverkehrsplanung, öffentliche Förderung umweltverträglicher und sozialverantwortlicher Reiseangebote, einen TÜV für Veranstalter und Ökobilanzen für touristische Zentren einsetzen. Wo sich heute fast jeder Veranstalter „sanft“ schimpft, werden die prickelnden Ideen dünner. Und wer käme auf die Idee, freien Bürgern ihre freie Reise zu versauern? „Wir schicken uns doch nicht selbst in die Wüste“, konstatiert der Oberkritiker.
„Und wer soll die Expertenkommissionen bezahlen?“ schleudert der Vertreter der Reiseveranstalter ins Plenum, „wir nicht!“ Zur Kasse gebeten werden will keine der Fraktionen. Wenn's um Geld geht, ist auch mit soften Alternativen nicht zu spaßen. Schon gar nicht bei Umweltkatastrophen: „Wenn euch 'ne Riesenqualle am Strand an die Badehose geht, können wir ja nichts dafür.“ Ebensowenig wie für schlabbernde Algen oder Schneeausfall. Deshalb fordern die Reiseveranstalter vehement die Absicherung durch staatliche Hermes-Bürgschaften. Wie es denn mit dem Verursacherprinzip wäre, werfen die Didaktiker ein. „Wurscht, Hauptsache wir zahlen nichts.“ Da sind die Veranstalter hart.
„Wir lassen uns nicht länger verarschen“, sagt der Fraktionshäuptling der Reisenden, läßt sich diesen Satz auf der Zunge zergehen und entgeht damit nur knapp einem Ordnungsruf. Die Kataloginformationen seien wirklich das Allerletzte, schonungslose Aufklärung über die Situation des bereisten Landes das mindeste.
So weit, so lustig; doch nach den endlosen Forderungskatalogen folgt auf die Pflicht die parlamentarische Kür: eine Runde Konsens. Oder will jemand noch diskutieren? Jetzt hätte es interessant werden können, doch bevor es im Karton knallt, geht's - ratz, fatz - in die Abstimmungsmaschine. Wie im richtigen Parlament eben. Finger hoch, Finger runter. „Völlig unklar alles.“ Zwischenrufe werden mit gelber Karte auf Umweltschutzpapier geahndet. Finger hoch, Finger runter. Das Abendbrot naht. Schnell wird alles durchgezogen. Siebzig Prozent für irgendwas, dreißig dagegen, ist auch egal. Das Spiel gleicht eher einer „Mensch -ärgere-Dich-nicht„-Partie, irgendwie kommt alles rein. Viele Forderungen, freundlich zusammengewürfelt, ein bunt schillernder Konsens.
Aber wie meinte zum Abschluß der parlamentarische Spielleiter, kurz bevor der Magen der Berichterstatterin in die Kniekehle klappt: „Selten ham wir so gelacht.“ Na, das ist doch was. Kirsten Wul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen