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Rücktrittsforderungen in Bonn

■ Kritik an Äußerungen aus dem Bundeskanzleramt zum unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der DDR: vom Einmarsch der Westmark, von Katastrophenspekulanten, Westentaschen-Talleyrands, der Politik der Panikmache, Maulkörben und politischen Brandstiftern

Bonn/Berlin (ap/taz) - Klammheimlich haben offenbar Anhänger der Zusammenbruchstheorie das Bundeskanzleramt unterwandert

-jedenfalls, wenn es um die DDR geht. Äußerungen eines „hohen Beamten, der namentlich nicht genannt werden wollte“, wonach die DDR unmittelbar vor dem Kollaps steht und die Einhaltung des Wahltermins im März fraglich ist, haben am Wochenende für heftige Reaktionen in Ost und West gesorgt.

Der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff wies auf dem Parteitag der LDP in Dresden diese Aussage als „sachlich und inhaltlich völlig falsch“ zurück und sprach von politischer Brandstiftung. Gleichzeitig forderte er die Bundesregierung auf, dem Beamten „ab sofort einen Maulkorb für Vorder- und Hintergrundgespräche zu verpassen, noch besser, ihn zu feuern“. Als Missetäter wird mittlerweile Kanzleramtsberater Horst Teltschik gehandelt.

SPD-Sprecher Eduard Heußen hielt der Bundesregierung vor, sie habe mit ihrer Informationspolitik den Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Moskau schwer belastet. Die Spekulationen des Kanzlerberaters über den Zustand der DDR seien durch das Dementi des Regierungssprechers in ihrer Bedeutung nicht relativiert worden. Die Bundesregierung wolle die deutsche Einheit offenbar mit dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch der DDR erzwingen, erklärte Heußen in Bonn. „Katastrophenspekulanten“ sollten aus dem Verkehr gezogen werden.

Auch der Sprecher der Grünen im Bundestag, Franz Stänner, forderte Kohl nachdrücklich auf, die „Westentaschen -Talleyrands im Kanzleramt zur Räson zu bringen“. Er müsse dem Eindruck entgegentreten, die Bundesregierung betreibe aktiv den weiteren Zerfall der DDR, um billig an die Konkursmasse zu kommen. Stänner äußerte den Verdacht, daß einige Unionspolitiker die DDR absichtsvoll destabilisieren und ihren Zusammenbruch herbeireden wollten. Sie solle offensichtlich sturmreif geredet und gezwungen werden, die Einheit zu den Bedingungen der Bundesregierung zu vollziehen.

Ins gleiche Horn stieß die DDR-SPD, die Kohl „Politik der Panikmache“ vorwarf. Er setze sich dem Verdacht aus, „sogar ein Chaos in Kauf nehmen zu wollen, um in dessen Gefolge erster gesamtdeutscher Kanzler werden zu können“. Die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ spach von einem „Einmarsch der Westmark“: Kohl wolle seine Währungsunion noch vor den Wahlen realisieren. „Wir fordern freie Wahlen am 18. März und die Respektierung unseres Rechts auf Selbstbestimmung!“ endete eine entsprechende Erklärung. (Siehe auch Interview auf dieser Seite und Kommentar Seite 10)

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