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Das Kino ist blind

■ Fast so etwas wie eine erste, einigermaßen deprimierende'Zwischenbilanz

Wie müssen Filme sein, um bei der Berlinale in den Wettbewerb zu kommen? Hauptsache amerikanisch. Wie müssen die wenigen nicht amerikanischen Filme aussehen, die den Wettbewerb zur Internationalität aufpäppeln sollen? Hauptsache nicht amerikanisch. Wenn man nur die Kraft hätte, nachdem man eimerweise mit brackigem Diskurs, schlechtverdauter Ideologie zugeschwappt wurde: Es wäre Zeit für eine herzzerreißende Klage. Das Kino ist blind, geht am Stock und hört schlecht. Aber wichtiger als die Klage ist die Warnung an etwaig noch existierende blicksüchtige Zuschauer. Kino ist überall, nur nicht da, wo man es vermutet. Geht nicht in den Zoo-Palast. Setzt euch ins Cafe. Jede Straßenecke hat Packenderes zu bieten. Autounfälle, soziale Dramen, Prostitution, Schwarzmarkt und Kaskaden von buntem Obst. Was gibt es nicht alles in der U-Bahn zusehen? Masse und Einsamkeit, Gewalt und Zärtlichkeit.

Drei Beispiele für nichtamerikanisches Kino präsentierte der Wettbewerb gestern. Das erste, Karel Reisz‘ Everybody Wins, ist an dieser Stelle schon gewürdigt worden. Nur eines wäre nachzufragen. Wie kommt es, daß ein Thriller, der mit amerikanischen Schauspielern in Amerika gedreht wurde und dort auch spielt, im Berlinale-Programm als britischer Beitrag firmiert?

Angels, das zweite Beispiel, ist gewiß der größte Humbug, der in diesem Wettbewerb bisher ans Licht zu treten wagte. Die schweizerisch-spanische Produktion befaßt sich mit den Problemen von drei - ja! - Amerikanern in Barcelona. Rickie kommt in die Stadt, um seine Mutter zu beerdigen, die dort als Poetin an Morphium starb, und um seinen Bruder zu finden, der im Knast sitzt, weil er die Poesie der Mutter nicht ertrug. Ein zwölfjähriger Knabe führt Rickie ins Bordell, wo Rickie gleich die schöne schwarze Prostituierte Sara entführt. Es handelt sich um Liebe. Deshalb wohl läßt sie ihn nicht gleich an sich ran - das ist fürchterlich, dann läßt sie ihn aber doch - und das ist vollends eine Katstrophe. Ich meine: So eine Sexszene darf man nicht weitererzählen, man schämt sich einfach für diesen ständigen Drang nach Reproduktion und irgendwie fürs ganze Menschengeschlecht. Dieser Film ist eine gequirlte Triebtheorie und leider an dieser Stelle noch nicht zuende.

Natürlich werden die drei - irgendwie ist Rickies Bruder aus dem Knast gekommen - vom zwölfjährigen Knaben aus dem Bordell und seiner Bande von zwölfjährigen Knaben und Mädchen aufgetrieben. Das führt zu einigem Blutvergießen. Dann kommt Sara - Hure bleibt Hure - zurück ins Bordell, Rickies Bruder zurück in den Knast, Rickie zurück nach Amerika. Der Film führt nebenbei noch den traurigen Beweis, daß schöne Frauen, schön fotografiert, sterbenslangweilig sein können. Die Fotografie ist überhaupt so schön, daß man sich fragt, wofür der Spot wirbt. Vielleicht ist das Produkt immer nur ganz kurz, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle eingeblendet. Gauloises blondes? Katalanischer Magenbitter?

Das dritte Beispiel für nicht amerikanisches Kino im Wettbewerb, David Haymans Silent Scream ist noch das ehrenwerteste. Laurence sitzt wgen Mords im Knast. Dort kommt er sowenig zurecht wie im Leben. Mit 37 stirbt er am System. Der Film beruht auf den tasächlichen Erinnerungen und Gedichten Laurence C. Winters‘, der 1977 eine Überdosis nahm. Der Film macht wie soviele den Fehler, daß er sich zusehr für seine eigenen Mittel und nicht so sehr für die Wirklichkeit interessiert und so die klinkenlose Zellentür, die Angst, die allein ein solches Requisit erzeugen kann, übersieht.

Stattdessen versucht er die Metaphern des Buchs in Bilder und Töne zu übersetzen. Das klappert. Das Spiel mit den filmmischen Mitteln, das suggestiv sein soll, ist nichts als illustrativ, also Mißbrauch. Über allem der lange pädagogische Zeigefinger.

Thierry Chervel

Everybody Wins 14.2. Urania 18.30 Uhr, Kosmos, 22.30 Uhr, Angels 14.2. Kosmos 16.30 Uhr, Urania 21 Uhr, Silent Scream 14.2. Kosmos 19.30 Uhr, Urania 23.30 Uhr.

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