Die anderen Bilder

■ Gerald Thomas‘ „Sturmspiel“ im Münchner Cuvillies-Theater

Wie war das eigentlich mit der Mauer und ihrer Öffnung, damals in Berlin? Eine leichte Veränderung des Straßenbildes, abgelichtete Emotionen, austauschbar mit einem Eisenbahnunglück oder einem Fußballspiel - seltsam leere Bilder für jeden, der nur einige Kilometer Abstand zur Mauer hat.

Und dann diese Bilder vom brasilianischen Regenwald, Baumstümpfe tanzbodengroß, Rauchschwaden über einer Wüste und Nachrichten von der gestiegenen Welttemperatur, die uns noch alle ersäufen soll.

Informationen genug. Aber jeder und jede kennen das Gefühl, als wenn die schiere Nachricht nicht genügte, als wenn etwas fehlte zum wirklichen Begreifen des Sachverhalts. Zu groß sind die Dimensionen, zu klein der Alltag, es fehlt eine Verbindung.

Anders die gute alte Kunst und ihr Markt: Sie schaffen Verbindungen und bringen zusammen. Zum Beispiel die Galerien, die Teile der Mauer teuer erstehen und sie dann in ihre Hallen auf das brasilianische Edelholzparkett stellen, und... in München Gerald Thomas auf der Bühne. Hier inszenierte der brasilianische Theatermacher im Cuvillies -Theater sein Sturmspiel.

Er entwickelt sein Theater als „work in progress“ ganz in der Atmosphäre des Jetzt: In Workshops mit den Schauspielern, in den Proben, von Tag zu Tag. So werden die Mauer und der Regenwald Teil des Stückes, und seine Frau Daniela macht sie zum Bühnenbild. So wird seine Hintergrundmusik eine Mischung aus Beethoven, Samba und Tieffluglärm und das Licht und das Bühnenbild werden zur solch perfekten Maschinerie gefeilt, daß sie sich als solche zeigt und keine Illusion gestattet.

Die Schauspieler agieren in allen denkbaren Formen: Höchstes Pathos neben natürlichster Umgangssprache, sachlicher Bericht neben größter Emotion. Und die Handlung? Das war am Beginn des „work of progress“ einmal Shakespeares schwieriges Alterswerk Der Sturm. Es liefert die Situation, Personen und einige Handlungsstrukturen, der Rest ist Thomas.

Der in Europa noch kaum bekannte Gerald Thomas wurde 1954 als Sohn deutscher Eltern in Rio de Janeiro geboren und verbrachte Kindheit und Jugend in Brasilien und England. Er begann seine Arbeit als Regisseur in New York, wo er vor allem durch seine Beckett-Inszenierungen bekannt wurde, darunter einige Uraufführungen später Texte von Beckett. Seit 1985 arbeitet er vorwiegend mit seiner eigenen Truppe in Brasilien, der „Dry Opera Company“, für die auch Phil Glass als Mitglied komponiert.

Was ist nun das Sturmspiel, seine erste Inszenierung in Europa? Um es in Thomas‘ eigenen Worten zu schildern: Ein Inzest (eine Nummer kleiner: eine Collage) aus Thomas und Shakespeare, deutschem Philosophieseminar, Waldsterben und der Mauer. „Die Berliner Mauer ist seit vielen Jahren Teil meiner Stücke. Ich denke, die Mauer ist vielleicht die beste Analogie auf das 20.Jahrhundert, das unglaublichste Monument, das eine Zivilisation geschaffen hat. Wenn Cromwells Parlament in England ein Symbol für die moderne Demokratie ist, und der Eiffelturm ein Symbol für Eisentechnologie, wenn der Dadaismus eine großartige Art ist, das Jahrhundert zu beginnen, dann kann das Endergebnis dieses Jahrhunderts nicht besser ausgedrückt werden als durch die Mauer.“

Shakespeares Sturm-Insel - beherrscht von dem guten Magier Prospero - ist der Ort, wo Thomas dies zu zeigen versucht. Die Gesetze des normalen Lebens sind dort aufgehoben, andere können Gewalt über die Personen und die Verhältnisse gewinnen. Alonso verkündet auf den Trümmern der Mauer eine Shakespearsche Vision: „In meinem Land würd ich alles machen / ganz anders als gewohnt, handel fände / nicht statt bei mir, kein Amt, kein Rang / Verbrieftes gäb es nicht; wie Reichtum, Armut, keine Dienerschaft: Verträge, Erbrecht, / keine Grenzen, Landbesitz, kein Wein- und Ackerbau; / Metall fänd kein Gebrauch, wie Korn und Wein und Öl; / Arbeit wär allen fremd; die Männer alle müßig; / und Frauen auch, doch rein in aller Unschuld; / kein Regiment.“

Ganz anders als gewohnt auch im Sturmspiel: Thomas‘ Collage aus Assoziationen, Wortspielen, Zitaten und Nonsens wird durch ein kompliziertes Zusammenspiel von stark fokussierten Scheinwerfern, Gazewänden und kurzen Blackouts (in deren Schutz die Szene wechselt) zusammengehalten. Es entstehen Bilder, die manchmal eindringliche Metaphern, manchmal scheinbar bedeutungslose Tableaus sind. Dem Zuschauer wird zu keiner Zeit etwas vorgemacht. Stets wird ihm im Stück gezeigt: Vorsicht, nicht hereinfallen auf dieses Spiel, es handelt sich nur um eine kunstvolle Mechanik! Achtung, diese großen Worte gerade eben... die sind auch uns auf der Bühne unverständlich! Mit anderen Worten: Wenig avantgardistische Pose, dafür manchmal Humor (allein der Schluckauf-Chor war schon fast den Besuch wert!).

Thomas will unter die Oberfläche der Bilder, der Geschehnisse, er gräbt und rackert in seinem Bergwerk, wir sehen den Abraum und das wertvolle Erz. Vielleicht kennen Sie das lustvoll-müßige Schauen an einer Baustelle, wo emsig mit großen Maschinen gearbeitet wird. Auch wenn der Große Schatz nicht gefunden wurde (worauf ein gestandener Münchner Premierenbesucher fixiert ist: magerer Beifall für die guten schauspielerischen Leistungen), das Warten darauf kann schön sein.

Hans-Peter Kistner

Die nächsten Aufführungstermine: 14., 16., 18. und 21. 2.