Laboratorien der Zivilisation

■ Die Folgen der neuen Technologien für Sein und Design von Arbeitsplätzen und Arbeitsinstrumenten

Bernd Meurer

Offensichtlich befinden wir uns - nicht nur im Bereich von Architektur und Design - in einer paradoxen Situation. Die Probleme, die sich uns heute bei der Frage nach der Gestaltung unserer Lebenswelt stellen, und die etablierten Denkweisen, Mittel und Methoden, sie gestalterisch zu behandeln, scheinen geschichtlich auseinanderzuklaffen. Wir wissen zwar über die physikalischen und sozialen Fragen unserer Umwelt mehr als je zuvor, aber zugleich nimmt die Diskrepanz zwischen dem, was wir wissen, und dem, was in der üblichen Gestaltungspraxis geschieht, immer mehr zu. Gestalterisch tritt diese Kluft von Wissen und Handeln in den öden Formen technokratischer Gestaltung ebenso in Erscheinung wie in dem von formalen Extrovertiertheiten gekennzeichneten Design, das auf eine wachsende, vom Phänomen des Auffälligen markierte Unsicherheit verweist.

Zugleich entwickeln sich mit den stattfindenden industriellen Umwälzungen und sozialen Veränderungen gestalterische Möglichkeiten, die so bislang nicht vorhanden waren. Mit den Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie, der Energie- und Materialtechnik und vor allem durch den Eintritt des zunächst der Computertechnologie vorbehaltenen Mikroprozessors in den unmittelbaren Produktionsprozeß wandeln sich die Produktionsbedingungen, die Erzeugnisse und die Strukturen der Arbeit von Grund auf. Es entsteht, was die Entwicklung der Industriegesellschaft betrifft, eine der Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichbare Offenheit der Situation. Damit sind Umwälzungenin der Gestaltung verknüpft, deren Tiefe an den Bruch zwischen Kunsthandwerk und industrieller Gestaltung denken läßt.

In der herkömmlichen Gestaltungspraxis bleibt der Gesamtkontext, in dem allein die miteinander verflochtenen Fragen der ökologischen, sozialen und kulturellen Entwicklung wirksam zu behandeln wären, schon aufgrund der disziplinären Eingrenzungen und Zersplitterungen weithin unberücksichtigt. Die Zusammenhänge, aus denen die Produkte hervorgehen und in denen sie stehen, finden im allgemeinen nur rudimentär Beachtung. Sie werden als Randprobleme angesehen und als solche behandelt. Nicht nur das in der Öffentlichkeit wachsende Problembewußtsein stellt diese Praxis in Frage. Auch die fortschreitende technologische Vernetzung verlangt, wenn auch aus anderen Motiven, fachübergreifendes Denken und Handeln.

Das stellt uns vor eine ganze Reihe noch offener Fragen. Die Möglichkeiten zur kritischen gestalterischen Reflexion der Zusammenhänge unserer Lebenswelt werden in der Praxis nicht nur von den existierenden Strukturen des Expertenwesens eingeschränkt. Sie sind auch von der uns zur Verfügung stehenden Kapazität begrenzt, Probleme hoher Komplexität zu handhaben. Zum Beispiel sind unsere physiologischen und psychologischen Fähigkeiten, Zusammenhänge als Ganzes wahrzunehmen, begrenzt. Die menschliche Wahrnehmung ist selektiv. Gegebenheiten wie diese lassen sich nicht in sich selbst korrigieren. Es bedarf der Erforschung integrationswirksamer Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Dafür wären auch die technologischen Möglichkeiten, nicht nur Handarbeit, sondern auch Kopfarbeit auf Maschinen zu übertragen, zu erschließen.

Wenn auch die Entwicklung auf diesem Gebiet im Bereich der Gestaltung noch in ihren Anfängen steckt, dient das Argument, die Probleme unserer Umwelt seien zu komplex, um sich mit ihnen in ihrer Gesamtheit seriös auseinandersetzen zu können, nur als Alibi, um übergreifende gesellschaftliche Verantwortung von sich zu schieben. Insofern ist die Frage der Komplexität an die der Mündigkeit gekoppelt. Angst vor Komplexität paralysiert emanzipatorisches Handlungsvermögen. Sie verschleiert die Banalität von Macht und Sachzwang, bannt Bewußtsein in Ohnmacht und provoziert Eskapismus, wie er sich gestalterisch in den Bemühungen um ästhetische Krisenbewältigungen manifestiert.

Ein anderer Aspekt der industriellen Entwicklung betrifft das Verhältnis von Uniformität und Polyformität. Durch mikroprozessuale Produktionssteuerung wird Massenfertigung zunehmend auch als Kleinserie und Einzelfertigung möglich. Unter den technischen Bedingungen der mechanischen Industrie war industrielle Fertigung an gestalterische Typisierung und Uniformität gebunden. Produkte wie die 1851 patentierte Nähmaschine von Isaak Singer, mit der die technische Grundlage für die Massenmode entstanden war, oder Henry Fords Model T, mit dem 1908 die Massenmotorisierung eingeleitet wurde, sind exemplarisch für die industrielle Durchsetzung kultureller Typisierung. Das genormte, das immergleiche Teil war Voraussetzung für das Prinzip der Montage in mechanischer Massenproduktion. Damit wurden um die Jahrhundertwende auch die Gestalter konfrontiert. Die Auseinandersetzung über „die Type“ hätte den Deutschen Werkbund während der berühmten Tagung 1914 in Köln fast gespalten, wenn sich nicht damals, noch während der Tagung, die Welt gespalten hätte. Muthesius war der Verfechter der Type, sein Gegenspieler Van de Velde. Mit Type und Uniformität verbanden sich zum damaligen Stand auf anderer Ebene Begriffe wie Gleichheit und Vergesellschaftung. Heute steht diesen Begriffen technologisch nicht mehr der Zwang zur Uniformität, sondern die Möglichkeit der Polyformität gegenüber.

Automatische Einzelfertigung ist zwar heute noch vergleichsweise aufwendig, aber die zunehmende Flexibilität der Maschinen erlaubt es, unterschiedliche Produktvarianten in kleinen Losgrößen zu fertigen. Die den neuen Techniken immanente Flexibilität überträgt sich auch auf die Produkte selbst. Die Gegenstände können mit reaktiven Eigenschaften ausgestattet werden. Sie könnten die flexiblen Merkmale jener Maschinen annehmen, mit denen sie hergestellt werden. Sie wären in der Lage, sich selbst zu transformieren. Die Techniken der Selbstdiagnostik, der Robotik und der Bilderkennung werden in die Erzeugnisse eingehen.

Die technischen Möglichkeiten, daß Gebäude physikalisch sichtbar auf die Veränderung von Faktoren, die von außen oder von innen auf sie einwirken, reagieren, erweitern sich. Bauwerke können ihre klimatischen und räumlichen Eigenschaften verändern. Der Faktor, daß Raum nicht nur durch sichtbare, sondern auch durch unsichtbare Elemente definiert wird, gewinnt mit der technischen Entwicklung zunehmend an gestalterischer Bedeutung. Auch mit der Anwendung von Licht oder Klima in Gestalt ihres natürlichen Vorkommens, ein in Architektur und Design jahrzehntelang vernachlässigter Faktor, beschäftigt sich die Industrie bereits seit geraumer Zeit intensiv. Darin berühren sich die Fragen der Ressourcen mit jenen der architektonischen Wechselbeziehung von innen und außen. Auf alte Themen - wie etwa die Gestaltung des Lichts - werden neue Prinzipien und Mittel angewandt, durch die sich die Möglichkeiten erweitern, unsere physikalische und soziale Umwelt zu verändern. Wie in der industriellen Produktion nimmt auch in der Gestaltung die Bedeutung der Software gegenüber der Hardware zu. Mehr und mehr werden wir auch Sensoren, elektronische Steuerungen und technische Kommunikationsmittel zur Erweiterung des Gebrauchswerts der Produkte einsetzen.

Mit dem Einsatz neuer Materialien und der Anwendung der Mikroprozessortechnologie nicht nur in der Fabrikation, sondern auch in den Erzeugnissen selbst läßt sich der Herstellungsprozeß über die „Fertigstellung“ hinaus gleichsam unbegrenzt ausdehnen. Durch die technologische Flexibilisierung erweitern sich die Mittel, unsere physikalische Umwelt individuell, je nach Bedürfnis im Gebrauch umzugestalten. Die Gegenstände erhalten transformationelle Eigenschaften. Damit bekommt das Marxsche Diktum, daß sich der Akt der Produktion erst in der Konsumtion vollendet, für die Praxis eine Perspektive, in der das existierende Verhältnis von Produktionssphäre und Konsumsphäre sich aufzulösen beginnt.

In diesem Prozeß erweitern sich Dauer und Begriff der Entwurfstätigkeit über den eigentlichen Entwurf hinaus. Damit eröffnen sich Möglichkeiten zur Partizipation der Menschen an der Gestaltung ihrer Umwelt, für die bislang die technologischen Voraussetzungen fehlten. Der Entwurfsprozeß wird - zumindest partiell und ab einer bestimmten Phase stärker vergesellschaftet. Zur Erschließung dieser Möglichkeiten bedarf es prozessual orientierter Gestaltung und nicht unantastbar statischer Kompositionen. Statt die Gestalt der Umwelt den Menschen zu oktroyieren, zielt prozessuale Gestaltung darauf, daß sich die Menschen ihre physikalische und Verhaltens-Umwelt mehr und mehr selbstbestimmt organisieren und gestalten.

Obwohl uns das technologische Instrumentarium zur Verfügung steht, die Umwelt ökologisch zu denken und zu gestalten, wurden die Zersetzungsprozesse bislang weder umgekehrt noch aufgehalten. Sie haben sich bestenfalls verlangsamt. Wirksam läßt sich Umweltgestaltung nur in globaler Vernetzung betreiben. Die künftige Praxis wird sich nicht mehr wie bislang in immer feiner untergliederte Einzelpraxen auseinanderdividieren lassen. Dem stehen Fachgebiets-, Branchen-, Konzern- und Nationalgrenzen entgegen. Entsprechend ist die gegebene Ausbildungsstruktur gegliedert. Sie ist auf den arbeitsteiligen Spezialisten und damit auf Berufsbilder fixiert, von denen viele in Zukunft so nicht mehr existieren oder deren Qualifikationsmerkmale sich grundlegend wandeln. Auch das Berufsfeld des Gestalters, getrennt in die Bereiche Stadtbau, Architektur, Industrial Design und Kommunikationsdesign und untergliedert in eine Fülle separierter Spezialbereiche, steht zur Debatte. Die Steigerung der Innovationsproduktivität durch stets höhere Spezialisierung ist mit zunehmendem Übersichtsverlust verbunden. Als Spezialist weiß der Einzelne immer mehr von immer weniger. Da hohe Spezialisierung aus sich heraus sogenannte Nebenfolgen produziert, scheint sie zudem noch deren Unvermeidbarkeit zu bestätigen.

Auch die Ausbildungsinstitutionen werden in Zukunft ihre Aufgabe nur erfüllen können, wenn sie fachübergreifend integrative Lehr- und Handlungsmöglichkeiten entwickeln. Durch Zerstückelung des realen Zusammenhangs von physikalischer und sozialer Umweltgestaltung geraten die wirklichen Probleme der technisch industriellen und sozial kulturellen Umwälzungen aus dem Blick.

Heute wären, um sich sowohl kritisch als auch produktiv mit der Gestaltung der Lebenswelt auseinanderzusetzen, Forschung, Ausbildung, Entwicklung, Experiment, praktische Erprobung, öffentliche Vermittlung und öffentliche Debatte in fachübergreifende Laboratorien der Zivilisation quer zu den eingefahrenen Disziplinen und gesellschaftlichen Arbeitsteilungen miteinander zu verknüpfen. Seiner Bestimmung nach wäre ein solches Laboratorium der Zivilisation ein Ort, an dem Entwürfe des Verstehens in Wechselwirkung mit Entwürfen des Veränderns entwickelt und, angewandt auf die konkrete Praxis der Veränderung unserer physikalischen Umwelt und ihres Gebrauchs und unserer sozialen Umwelt und ihrer Formen und Mittel der Kommunikation, in der gesellschaftlichen Praxis erprobt würden. Dabei kommt dem Faktor Öffentlichkeit eine entscheidende Funktion zu.

Forschung, Entwicklung, Realisierung und Kritik sind unmittelbar mit der Ausbildung zu verknüpfen - nicht in paralleler Bündelung, sondern in gegenseitiger Durchdringung. Ein Ansatz, den Problemen der in zunehmendem Übersichtsverlust mündenden Spezialisierung zu begegnen, könnte in der Entwicklung und Vermittlung sogenannter Schlüsselqualifikationen liegen, die sich durch das Vermögen auszeichnen, Wissen und Können übergreifend auf unterschiedliche Situationen anwenden zu können. Dabei wäre die Qualifikation des Einzelnen weniger von den Grenzen eines Fachgebiets umrissen als durch die Fähigkeit zur Situationsbewältigung gekennzeichnet. Zur Entwicklung fachübergreifender Arbeitsformen bedarf es der Entfaltung integrationswirksamer Innovationsprozesse, in denen fachliches Wissen und Können nicht nur als Ensemblewissen und -können zusammengefaßt, sondern in einen zusammenhängenden Handlungsprozeß gebracht wird. Darin wäre auch die für das Leben abstrakte, aber arbeitsteilig reale Trennung von naturwissenschaftlichem Erklären, geisteswissenschaftlichem Verstehen und praxisveränderndem Tun aufzubrechen. Die Spezialisierung aufs konkrete Projekt wäre in der Generalisierung des Problembewußtseins zu entwickeln.

Sowenig wie der vorarbeitsteilige Künstlergestalter den Anforderungen von heute genügt, sowenig kann der arbeitsteilige Spezialist in Zukunft als Maß aller Dinge gelten.