piwik no script img

Im Dschungel der Wahrheitsfindung

■ Amtsrichter im Kampf mit den Tücken seines Berufs, oder: Wahrheit und Lüge unentwirrbar

Eigentlich soll so ein Richter ja die reine, volle und lautere Wahrheit ans Licht befördern. Manchmal muß er sich aber damit begnügen, faustdicke von hanebüchenen Lügen zu trennen. Da nutzt es dann auch gar nichts, die Zeugen vor Beginn der Befragung auf die Wahrheit zu verplichten. Nachdem Amtsrichter Claus Richter gestern zwei Stunden lang immer neue Wahrheiten nicht unter einen Hut bekommen konnte, fand er eine ganz neue Formulierung für eben diese Belehrung: „Sie müssen als Zeuge wahrheits

gemäß aussagen. Sonst sitzen Sie auch da“, ermunterte er entschieden den Jaczek D., der treuherzig versicherte: „Ich werde die ganze Wahrheit sagen.“ Doch nehmen wir zunächst die Wahrheit des Angeklagten.

Angeklagter Wlodzimierz B., die erste (sehr überzeugend): Im April 1989 klingelte es an seiner Wohnungstür. Draußen stand ein völlig unbekannter Mann, Pole wie er, und begehrte zu wissen, „ob hier Polen wohnen“. Wlodzimierz, nach eigener Aussage „nicht ganz betrunken“, fand, daß den Besucher das gar nichts anginge und schloß die Tür. Zweites Klingeln. Und dann hat er den aufdringlichen Klingler die Treppe runtergeworfen.

Opfer Miesczyslaw M., die erste, (sehr überzeugend): Auf dem Flohmarkt an der Weser habe er mit dem zuvor unbekannten Angeklagten über den Ankauf eines Fernsehers verhandelt. Den wollte er sich am Abend abholen.

Das Geld für den Fernseher habe er von einem 1.600 Mark -Lotterie-Gewinn seines Sohnes. Erst zahlte er 700 Mark, dann wollte er den Fernseher und eine Garantiekarte. Statt dessen bekamen er und seine Frau Dresche und flogen die Treppe herunter. Betrug nennt so etwas der Jurist.

Zwischenspiel, der 12 jährige Sohn des Opfers und Zeuge der Aktion: Nein, einen Fernseher habe sein Vater nicht holen wollen. Vielmehr habe der ausstehendes Geld zurückhaben wollen.

Angeklagter Wlodzimierz B., die zweite. (sehr überzeugend, beinahe pathetisch): „Ich schwöre.“ Der angeblich unbekannte Aufdringling habe vor Monaten einen Videorecorder bei ihm gekauft, wenig später dann aber zurückgegeben. Von den 700 Mark Kaufpreis habe er 400 zurückgegeben und 300 behalten, weil das Gerät kaputt gewesen sei. Diese 300 Mark habe der Mann nun zurückhaben wollen. Und deshalb habe

er ihn rausgeschmissen.

Opfer Miesczyslaw M., die zweite. (leicht verunsichert): Video-Recorder, so etwas habe er noch nie gehabt. Und daß inzwischen rausgekommen ist, daß der 1.600 Marks-Gewinn seines Sohnes eine Schreibmaschine war, nun gut: „Das habe ich schlecht gesagt.“ - „Auf Deutsch nennt man das Lüge“, läßt der Staatsanwalt übersetzen.

Richter Claus Richter, inzwischen weiter von der Wahrheit entfernt denn je, sieht sich veranlaßt, alle elf Zeugen, das Opfer und den Angeklagten von dem Unterschied zwischen Gericht und Märchenbude zu überzeugen. Die Zeugen werden alle auf die Wahrheit verpflichtet, das Opfer vereidigt und der Angeklagte mit 300 Mark Ordnungsgeld wegen ungebührlichen Verhaltens belegt. In 11 Tagen darf Richter weiter im Dschungel von Video- und TV An- und Rückkäufen forschen.

hbk

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen