: ALLES HALBWEGS GEBROCHEN
■ Das Variete-Programm der "Scheinbar"
Drei Seiten widmete das Nachrichtenheft für Ewigdistanzierte jüngst dem Variete. Unter der Rubrikenüberschrift „Unterhaltung“ - denn „Kultur“ ist Thomas Bernhard - titelte es: „Eine fast schon vergessene Kleinkunst lebt wieder auf und das Publikum ist angetan“, als ob das eine nicht vom anderen abhinge. In der achten Spalte wird auch das „Berliner Kleinst-Variete Scheinbar in den Sog des Trends gezogen.
Quer durch die Bundesrepublik führt die Bestandsaufnahme des Wochenmagazins und überlegt mit den Machern großer Bühnen, ob denn die Menschen TV-müde seien oder sich ohne den Zwang, denken zu müssen, dem puren Amüsement hingeben wollen. Und kommt zu dem Schluß: „Traumtheater postmodern: Der Mensch läßt sich gern verzaubern, aber er glaubt dem Zauber nicht; er liebt den schönen Schein, den er zugleich entlarvt.“
„Kleinst-Variete“ Scheinbar geht einen Schritt weiter, versteht sich als Präsentierfläche, die jungen Künstlerinnen und Künstlern den Sprung weg von der Etüde hinaus ins Star -Dasein ermöglichen will. Manchmal finden in der Monumentenstraße, wo sich ansonsten Tankwart und Friedhofswächter Gute Nacht sagen, gepflegte Cocktailparties in kleinem Kreise statt, bei denen geplaudert und Talente weiterempfohlen werden. Hauptsächlich aber treten hier von September bis Juni mittwochs und donnerstags Profis, Laien und vor allem sogenannte „Nachwuchstalente“ auf. Auf die Bühne dürfen alle, die meinen, dorthin zu müssen: Menschen, die Bälle in die Luft werfen, mit Stimmbändern oder schwarzweißen Tasten arbeiten oder Geschichten vorspielen.
Während der Aufführungen vergißt sich das Publikum keinen Moment. Obwohl rege aus den Stuhlreihen neben dem bullernden Allesbrenner dazwischengerufen wird und obwohl die auf der Bühne die unten in der Sardinendose immer wieder gern in neckische Spielchen einbeziehen, bleibt doch der Eindruck, den Kulturschaffenden noch im Übungsraum zusehen zu dürfen. Hier herrscht kein zu entlarvender schöner Schein, denn ohnehin klappt nichts wie am Schnürchen, und das ist ja das Schöne: Jongleure verpassen ihre Wurfgeschosse, und mit der Technik klappt es auch nicht. Das Tape sei in Reinickendorf, irgendwo jedenfalls, verschollen, wurde in der letzten Vorstellung geflunkert, nach der die Stammkünstler der Scheinbar erst einmal auf Tournee nach Spanien fuhren.
Die Stimmen der Sängerinnen reichen nicht halb so weit wie sie müßten. Damit sind die jungen Frauen genau das geworden, was sie darstellen wollen: Schlagersternchen, wie sie früher durch die Lokale tingelten, ohne jemals recht zum Leuchten zu kommen. Aber vielleicht, eines Tages... Conferencier Michael Genähr unterstützt das Prinzip, so gut er kann. Stellt den Jongleur vor mit der Bemerkung, daß der in der Volkshochschule Kurse anböte: „Jonglieren bis zur sozialen Anerkennung“. Die eigenen Gesangsduette kündigt er als „kleine musikalische Tierversuche“ an. Dabei lächelt er und reibt sich die Hände, wie er es schon vor Jahr und Tag tat, als er noch pensionierte Zirkusartisten vorstellte. Und windet sich, wenn etwas nicht klappt, wie es sollte, so gut, daß aus der Panne keine Pleite wird. Fast ist es zuviel des Guten - es bleibt offen, ob er sympathisch erscheinen will oder nicht. „Verzaubern“ tut Michael Genähr nicht.
Inzwischen führen auch Wege von drüben in die Scheinbar.An besagtem Abend sang Björn aus Berlin-Ost von einer kleinen „Pulloverbraut“, die ihn gründlich durcheinander brachte, am Lagerfeuer an der See mit Gitarre, und von einem „Rainer, der Kalle hieß“, im Knast saß und da durchdrehte. Björns Komik war eine Spur zu bissig und gemein für die kleine Gesellschaft am intimen Orte: Der Applaus, laut Konzept der Scheinbar Hauptbestandteil des Programms, kam höflich knapp, und der Sänger, „Liedermacher“ hieß das mal, wirkte nicht gerade beglückt. Vielleicht geht ja „der Mensch“ in die Scheinbar, den das anfangs erwähnte Nachrichtenblatt im „Traumtheater postmodern“ ausmachte: der ab- und aufgeklärt sein und gleichzeitig hemmungslos seine Lachmuskeln trainieren möchte.
Claudia Wahjudi
Scheinbar-Variete in der Scheinbar, Mi und Do jeweils 20 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen