: Eine Amerikanerin in Berlin
■ Die New Yorkerin Marcia Pally betrachtet die Berlinale
Ich muß schon sagen, die Berliner sind bemerkenswert locker, was ihren Umgang mit Drogendealern angeht. Vor zwei Tagen wollte ich von dem öffentlichen Fernsprecher in einem China -Restaurant aus telefonieren und fand dort nicht nur die üblichen Hinweise, welche Münzen man wo einwerfen und daß man auf das Freizeichen warten muß, sondern außerdem mit der Hand danebengekritzelt die Vorwahlnummern für eine Reihe so exotischer Plätze wie Djakarta, Thailand, Burma, Osttimor und andere. Freunde von mir versuchten mir klarzumachen, daß diese Art von öffentlichen Informationen in Europa durchaus nicht ungewöhnlich sind und nur eine kleine Aufmerksamkeit des jeweiligen Etablissements darstellen. Nun gut, ich habe verstanden. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß es sich nicht empfiehlt, bei einer etwaigen Reise in den Vereinigten Staaten diese Praktiken beizubehalten - man würde schon bald Gelegenheit bekommen, zusammen mit einem Haufen Kolumbianern Tüten zu kleben.
L'Amiga ist ein Film von Jeanine Meerapfel, der nur für die Fachbesucher der Berlinale gezeigt wurde und noch keinen deutschen Verleih gefunden hat. Er beginnt mit einigen Eindrücken über die zehn Jahre Diktatur in Argentinien und endet mit einem Kommentar zur gegenwärtigen Berliner Situation, und zwar in Gestalt eines Vorwurfs, den man hierzulande nicht besonders häufig zu hören bekommt. Etwa nach der halben Länge des Films muß eine jüdische Schauspielerin Buenos Aires verlassen, um den angedrohten Gewalttaten einer Gruppe von antisemitischen Schlägern zu entgehen, und findet schließlich Zuflucht in Berlin ausgerechnet in der Stadt, die ihre Eltern fünfzig Jahre zuvor aus ähnlichen Gründen verlassen mußten. Hier sei sie absolut sicher, vertraut sie einer Freundin an, hier gebe es keine polizeilichen Schikanen und keinen Faschismus. Berlin sei ganz einfach eine Insel, die wie ein Augapfel im Gesicht Deutschlands dahänge und einfach nur genau beobachte, was ringsherum vorgeht.
Als die Meerapfel diesen Film drehte, mußte die Schilderung dieser Einwanderung wahrscheinlich wie ein ironischer Toast auf diese dreigeteilte westliche Stadt wirken - ein Hort der Zuflucht für alle, die stolz von sich sagen, daß sie nirgendwo hinpassen. In diesem Winter jedoch wirkt der Film eher wie eine Elegie auf das, was Berlin jetzt angesichts der Wiedervereinigung Deutschlands droht. Das resorbierte Auge wird blind.
Die wenigen Deutschen, die am Realitätsgehalt von Jeanine Meerapfels Beobachtungen zweifeln, insbesondere angesichts des gegenwärtig herrschenden Freiheitsjubels, sollten sich vielleicht Das schreckliche Mädchen ansehen. Ein junge Schülerin riskiert ihre gute Stellung in der Klasse als Liebling des Lehrers, als sie sich vornimmt, die Geschichte ihrer Heimatstadt während des Dritten Reichs ein wenig unter die Lupe zu nehmen. In ihrem späteren Leben verärgert sie eine Reihe von Ex-Nazis und ihre Kollaborateure, indem sie ihre Erkenntnisse in Form eines Buches publiziert. Die Folge sind mehrere Gerichtsverfahren und zündende Aktivitäten von seiten lokaler Skinheads. Der überraschende und überaus wirksame Einfall von Regisseur Michael Verhoeven bestand nun darin, diese Geschichte im Stile eines von Übereifer gekennzeichneten Schulaufsatzes zu erzählen. Eine kindliche Erzählerstimme aus dem Off und zahlreiche ins Bild gerückte Illustrationen gliedern den Film, der mit jungmädchenhaften Phantasievorstellungen umrankt ist. Das beste an dem Film ist wirklich der Einfall des Regisseurs, die grauenvollen Entdeckungen des Mädchens von dem Hintergrund der munteren Geschäftigkeit des heutigen Berlin zu zeigen.
Übersetzung: Hans Harbort
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