: West-Ost-Konzept-Transfer in der Wohnpolitik?
15 Thesen über genossenschaftliche Selbsthilfe ■ D O K U M E N T A T I O N
Verschiedentlich aus Budapest, Prag und Ost-Berlin angesprochen, ob Genossenschaften und gemeinnützige Wohnungsunternehmen eine mögliche Antwort auf die drückenden Stadt- und Wohnprobleme dieser Länder sein könnten, fällt die Antwort nicht leicht. Sicherlich, anders als die fragwürdigen Phantasien über einen „ganz anderen Sozialismus“, einen „neuen dritten Weg“, die als ordnungspolitische Gesamtalternative noch verbreitet sind, läßt sich für die Wohnungswirtschaft tatsächlich ein „dritter Weg“ zwischen Staats- und Privatwirtschaft propagieren, ein intermediärer oder gemischter Sektor, und zwar mit Hinweis auf zahlreiche historische und aktuelle internationale Erfahrungen. Die Wohnung allein marktwirtschaftlich als Ware zu handeln, ist noch nirgends erfolgreich gelungen. Als bewährteste Alternative bietet sich eine freigemeinschaftliches Organisationsweise auf der Grundlage eines staatlichen Rahmengesetzes an. Vorbildliche Elemente finden sich in der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft der zwanziger Jahre in Deutschland und in den skandinavischen Ländern heute. Vor einer einfachen Übernahme westdeutscher Organisationsformen, auch der Genossenschaften, sollte jedoch gewarnt werden. Denn abgesehen davon, daß soeben das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz abgeschafft wurde, sind auch die westdeutschen Genossenschaften voller Strukturprobleme. Da in der DDR der erste Aufruf zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft zur Reaktivierung des Genossenschaftsgedankens im Wohnbereich erschienen ist, wird es außerordentlich wichtig, selbstkritisch die westdeutschen Erfahrungen auf den Punkt zu bringen. Dazu sind folgende erste Thesen für die nun beginnende Debatte über die Neuorganisation des Wohnungswesens in den osteuropäischen Ländern:
1. Sowohl für die drängenden Fragen der Instandsetzung/Modernisierung des Bestandes wie auch für den Neubau eignet sich die genossenschaftliche Organisationsform, da sie auf einmalige Weise die Identität von Vermieter- und Mieterrolle innerorganisatorisch verbindet.
2. Genossenschaftliche Organisationsformangebote müssen jedoch echt sein: freiwillige Zusammenschlüsse, Mitgliederförderung im Sinne eines Primats des Nutzungsinteresses bei Berücksichtigung des Vermögensinteresses (Eigenkapitalsicherung), Demokratieprinzip.
3. Aufgrund ihres Doppelcharakters als Wirtschafts- und Sozial-/Kulturform eignen sie sich besonders als Organisatoren von Wohnraum als Lebensraum („Wohnen plus...„; soziale Gemeinschaftseinrichtungen usw.).
4. Soziale Wohnversorgung ist ohne Staatshilfe nicht möglich; auch Genossenschaften ersetzen nicht staatliche Förderung. Aber sie sind aufgrund ihrer Konstruktion besonders förderungswürdig.
5. Als Mittelding zwischen Eigentum und Miete, also als sozial gebundenes Eigentum (Mobilisierung privater Mittel) und aufgrund des Identitätsprinzips von Bauherren und Nutzern (soziale Treffsicherheit, Verteilungswirkungen von Subventionen) sind Genossenschaften die idealen Subventionsempfänger.
6. Das westdeutsche Genossenschaftssystem kann aufgrund zahlreicher Strukturschwächen nicht einfach kopiert werden.
7. Finanzierungstechnisch ist das westdeutsche Genossenschaftssystem anachronistisch: Das Nominalprinzip und der Ausschluß von jeder Wertsteigerung behindert die Eigenkapitalbildung. Die genossenschaftliche Eigentumsbildung wird darüber hinaus steuerrechtlich diskriminiert.
8. Ein zeitgemäßes Genossenschaftsgesetz müßte statt schematischer (wie bisher), differenzierte Beteiligungsformen anbieten. Der individuell unterschiedlichen Eigenleistungsfähigkeit (durch bauliche und finanzielle Selbsthilfe) müßten entsprechende Anreize zur genossenschaftlichen Eigenkapitalausstattung gegeben werden. Die deutsche Entwicklung hat die Baugenossenschaften immer unfähiger zur Eigenkapitalbeschaffung gemacht, sie immer weiter vom Eigentum entfernt, von der Bausparförderung faktisch ausgeschlossen und sie somit schließlich fast ganz von staatlichen Förderungsmaßnahmen abhängig gemacht.
9. Das westdeutsche Genossenschaftssystem begünstigt die schon Versorgten, benachteiligt die Unversorgten. Unversorgte können sich weder hinreichend in bestehenden noch in Neugründungen lobbyistisch organisieren.
10. Als übertragungsfähiges Modell eignet sich das Verbundmodell aus den zwanziger Jahren, das noch heute in den skandinavischen Ländern vorherrschend ist. Dort organisieren sich und sparen die Unversorgten in einer Sekundär- oder Muttergenossenschaft, die dann für diese plant und baut. Nach Fertigstellung wird die Anlage als Primär- oder Tochtergenossenschaft der Versorgten ausgegliedert, bleibt aber meist Mitglied im Verbund/Verband.
11. Bei der Neueinführung von Genossenschaften ist die Hilfe zur Selbsthilfe von strategischer Bedeutung. diese umfaßt sowohl finanzielle Anreize des Staates wie auch Gründungshilfe seitens einer oder - besser - konkurrierender genossenschaftlicher Entwicklungsagenturen/Sekundärgenossenschaften.
12. Das westdeutsche Verbandssystem hat - im internationalen Vergleich - drei Besonderheiten, die Vor und Nachteile haben: Erstens wurden 1934 die Richtungsverbände zugunsten des Einheitsverbandsprinzips abgeschafft und bis heute beibehalten. Damit ging das Ferment der politisch-kulturellen Konkurrenz um Mitgliederbindung verloren, eine Entpolitisierung trat ein, ein closed-shop-Denken und Abwehr von Neugründungen breitete sich aus. Zweitens sind die Wohnungsbaugenossenschaften zwangsvereint mit den gemeinnützigen Gesellschaften, die vielfach in den Regionalverbänden die Mehrheit haben, d.h. es gibt keine klare genossenschaftliche Interessenvertretung. Drittens zeichnet sich das westdeutsche Verbandssystem durch die Einheit von Interessens- und Prüfungsverband aus, was eine vielfach kritisierte Interessensvermengung darstellt.
13. Zusammenfassend: Das westdeutsche Verbandssystem ist neugründungs- und kleingenossenschaftsfeindlich. Das implizite Wachstumsmodell seit 1933 ist das einer schrumpfenden Zahl von Genossenschaften, die durch Fusion oder interne Bautätigkeit expandieren. Die „lebendigere“, innovationsfreundlichere, historische und international auch übliche Alternative ist jedoch: Wachstum durch Neugründungen.
14. Je nach Ausgestaltung des Genossenschaftsgesetzes (Auflösungsregelung, Vermögensbindung) müßten im Falle hoher staatlicher Förderung Sozialbindungen vertraglich oder per Gesetz (Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz) eingeführt werden. Hier sollte das Äquivalenzprinzip gelten: Förderung je nach Bindungs- und Leistungsbereitschaft. Die in der BRD verbreitete „gleiche“ Förderung unterschiedlicher Rechtsformen durchbricht negativ diesen Grundsatz.
15. Ein staatliches Rahmengesetz für die freigemeinschaftliche Wohnungsorganisation (analog dem abgeschafften Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes einschließlich des 1956 gestrichenen Anti -Spekulationsparagraphen 8) sollte ordnungspolitisch den Markt scharf und deutlich teilen. Innerhalb sollte grundsätzlich nur die „sozial gebundene Wohnung“, allerdings in unterschiedlicher Form - von reiner Miete über Genossenschaftseigentum zu spekulationsgebundenem Privateigentum - angeboten werden. Nur innerhalb sollte es staatliche Förderung geben. Außerhalb existiert ein freier privater Sektor ganz ohne Förderung. Der Autor ist Professor für Planungs- und Bauökonomie an der TU Berlin und Mitgründer des Netzwerks für neue Wohnformen „Wohnbund“.
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