: Keine Angst vorm „Vierten Reich“?
Frankreichs Hauptsorge ist vielmehr ein möglicher neutraler Wirtschaftsgigant Deutschland / Nun soll die EG-Währungsunion vorangetrieben werden / Kohl und Mitterrand einigen sich auf EG-Sondergipfel / Bundesdeutsche Überheblichkeit stößt auch in Paris sauer auf ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk
Ein großes Deutschland - das ist für Frankreichs Politiker ungefähr wie ein Orkan, ein Börsenkrach oder ein nuklearer Störfall: unvermeidlich, aber letztlich kein Grund zur Sorge. Man wird sich schon irgendwie arrangieren.
Das Hauptproblem Francois Mitterrands ist nicht die Einheit, sondern die Frage, wie ein vereinigtes Deutschland an die westlichen Bündnisse angebunden werden kann. Sein Trauma: Ein neutrales, wirtschaftlich mächtiges, wenn auch unbewaffnetes Riesenbaby, das sich in Mitteleuropa unkontrolliert breitmachen könnte. Deswegen konnte der erste Gesprächspunkt des Goodwill-Diners am Donnerstag abend schon nach dem Aperitif abgehakt werden: ein neutrales Deutschland wird es nicht geben, jedenfalls „nicht mit mir“, so Helmut Kohl. Grund genug für Mitterrand, seinem Gast alles Gute für die Bundestagswahl zu wünschen.
Schlüsselgröße der Mitterrand'schen Diplomatie ist der KSZE -Prozeß. In seltener Einmütigkeit mit Margaret Thatcher ist Frankreichs Präsident der Auffassung, einem deutschlandpolitischen Beschluß der vier Sieger und der zwei Verlierer müsse ein Votum der 35 Unterzeichnerstaaten des Helsinki-Abkommens folgen. In einem Mittwoch erschienenen Interview hatte Mitterrand zudem eine Ausweitung des Nato -Bereichs „über die aktuellen Grenzen hinaus“ abgelehnt.
Mitterrand und Kohl erklärten ihren „gemeinsamen Willen, die deutsche und die europäische Einigung auf zwei parallelen Schienen voranzubringen“. Hinter dem diplomatischen Passepartout verbirgt sich der Wunsch, die EG -Währungsunion rascher als bislang geplant zu verwirklichen. Beim EG-Gipfel vom 8.Dezember in Straßburg hatte sich die Bundesregierung nur mühsam mit einer EG-Regierungskonferenz für Dezember 1990 einverstanden erklärt. Vor allem Italien, dessen Ratspräsident Andreotti Mitterrand am Dienstag getroffen hatte, hofft, daß Kohl sich zu einer Vorverlegung des Termins bewegen lassen würde, nachdem er in Sachen deutsche Währungsunion eine gewisse monetäre Kühlheit an den Tag gelegt hatte.
Nichts da: Die deutsche Währungsunion wird vom Bundeskanzler als eine innerdeutsche Angelegenheit verstanden, die mit der europäischen Währungsunion in keinem direkten Zusammenhang steht. Deswegen wurde die EG -Kommission von dem Projekt auch lediglich „informiert“ statt „konsultiert“, wie es die große Mehrheit auch des Europaparlaments beklagt hat. Erst die D-Mark vom Rhein bis an die Oder, dann der ECU, so die Devise des Bundeskanzlers. Eine Vorverlegung der EG-Regierungskonferenz komme nicht in Frage, weil erst die Bundestagswahl abgewartet werden muß, beschied Kohl. Zum Trost erklärte er sich mit dem Vorschlag Irlands einverstanden, im April einen Sondergipfel der EG zur Zukunft Deutschlands einzuberufen. Außerdem lobte er Mitterrands Projekt einer „Europäischen Konföderation“ unter Einschluß Osteuropas als „richtige Idee“.
Doch diplomatische Eintracht bei Kerzenlicht und gesellschaftliche Wirklichkeit sind bekanntlich zweierlei. Zwar verkünden die Meinungsumfragen eine breite Zustimmung der Franzosen zu einem vereinigten Deutschland - doch mit sonderbarer Hartnäckigkeit wird das Thema in den Medien unter der Rubrik „Viertes Reich“ verbucht. Journalistische Übertreibung oder Ausdruck eines diffusen Unbehagens? Als Kohl gegenüber Modrow den Bismarck bzw. die Eiserne Birne markierte, wurde diese neu-alte Überheblichkeit in Frankreich sehr genau zur Kenntnis genommen; und der auch am Donnerstag neu inszenierte Eiertanz um die „Frage“ der polnischen Westgrenzen („Wir geben die Antwort, wenn Deutschland eine gemeinsame Regierung und ein gemeinsames Parlament hat“) stößt hierzulande auf völliges Unverständnis.
Bislang hat sich allein die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) zur Warnerin vor deutscher Einheit und zur Befürworterin der Neutralität gemacht. Am Montag sprach das ZK von einer „faktischen Annexion der DDR durch die BRD“, und Parteichef Marchais prophezeite, „ein großes Deutschland bedeutet ein niedergeschmettertes Frankreich“. Gewiß schwingen da nationalistische Töne mit - doch die „Partei der 75.000 Füsilierten“ hat das Recht, die Stimme derart zu erheben. Auch fast drei Jahrzehnte deutsch-französische Freundschaft haben das Sedan-Trauma, das leiderprobte Mißtrauen gegenüber der Maschinenmacht nicht beseitigen können. War es nur Sarkasmus, als ein Priester im 'Figaro‘ vor einigen Tagen vorschlug, den Deutschen in weiser Voraussicht doch gleich Elsaß-Lothringen zurückzugeben?
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