Grausame Schocks und die Forderung nach Versöhnung

■ „Das asthenische Syndrom“ von Kira Muratowa

Die Hauptgestalt des neuen Films von Kira Muratowa „Das asthenische Syndrom“ ist der Mensch, der schläft, - denn das ist seine natürliche biologische Schutzreaktion auf die „unerträgliche Last des Seins“. Diese Gestalt wird zu einem Symbol der geistigen Lethargie der Gesellschaft, einer müden, entkräfteten Gesellschaft, die an ihre Grenze gekommen ist. Eine Gemeinschaft lärmender, hin- und herrennender Menschen, die sich einer „Vogelsprache“ bedienen, die wie Blinde, Taube und Stumme mit der Nase auf alles stoßen, als ob sie nichts um sich sehen, als ob sie einander nicht hören - so stellt Kira Muratowa sich und uns die moderne Welt vor.

Kira Muratowas Filmsprache cerdankt sich der Kombination eines harten Realismus‘ mit der Philosophie, mit einer Bildersprache.

Kira Muratowa denkt ganz und gar filmisch. dabei widmet sie ihre ganze Aufmerksamkeit den Details des Alltagsverhaltens.

Die feinen Fingerchen der jungen Verführerin krallen sich fest ins weiche Fischfleisch, wollüstig saugt sie die kleinen Gräten ab - dazu die süßliche Melodie des alten, halbvergessenen Tangos „Tschakita“ ...

Derartige Kinoleckerbissen hat sie freigebig durch den ganzen Film verstreut. Aus solchen kleinen, auf den ersten Blick chaotischen Alltagsskizzen, Porträts und Sittenbildern, mit viel Lustigem - für uns, die Landsleute der Kira Muratowa, ist das leicht zu erkennen -, auch mit all dem Absurden, dem Unsinn und den Ungereimtheiten unseres Lebens, wird ein beunruhigender und tragischer Film über die Krise des Menschen.

Kira Muratowa hat zu Recht den Ruf einer ehrlichen und prinzipienbewußten Künstlerin, einer Künstlerin, die sogar in den schwersten Stagnationsjahren, als die Filmbosse Aufführungen ihrer Filme verboten, ihr Recht auf die freie Äußerung ihrer künstlerischen Prinzipien, ihres Bürgerstandpunktes verteidigte.

Diesmal nörgeln die amtlichen „Hüter der Moral“ an einer harten Szene aus „Das asthenische Syndrom“. Die U-Bahn-Szene ist tatsächlich hart. Da flucht eine Frau und schimpft wie ein Rohrspatz, weil sie wahrscheinlich schon keine anderen menschlichen - Worte mehr findet, um die Armseligkeit des Daseins, des Lebens auszudrücken. Die Filmautorin greift ganz bewußt zu diesem Schock. Er ergibt sich logisch aus ihrem Verständnis von Film.

Ich möchte hier einige Auszüge aus der Diskussion über den Film anführen, an der sowjetische Kritiker, Journalisten, Psychologen, Historiker teilgenommen haben. Sie begann Ende vergangenen November, nach einer der ersten Vorführungen von „Das asthenische Syndrom“. Vielleicht werden diese Meinungsäußerungen dem ausländischen Zuschauer den Film verständlicher machen.

„Das asthenische Syndrom“ ist eine exakte künstlerische Diagnose des Zustandes unserer Gesellschaft: Zerfall aller Zusammenhänge, aller Bindungen. Dazu kommt noch eine nach außen strebende Aggressivität... Kira Muratowa ist wohl nicht die erste, die diese immer deutlicher werdenden Züge bemerkt... Aber der Film der Muratowa unterscheidet sich von vielen anderen Filmen durch eine Besonderheit - er ist nämlich mit blutendem Herzen gemacht worden, er ist von Mitleid zu den Menschen durchdrungen, und er - obwohl er sehr hart, sogar grausam ist - erniedrigt weder die Filmhelden, noch die Zuschauer.

Die Schocktherapie, zu der die Regisseurin greift, ist kein Selbstziel.

„Das asthenische Syndrom“ ist meiner Meinung nach der erste Film der neuen Zeit. Gesegnet sei der Künstler, der zu allen Zeiten über die Köpfe der Tauben hinweg sprechen darf und kann, wie dies Kira Muratowa tat.

Heute haben wir eine ganze Menge hauptamtlicher Prediger der Barmherzigkeit, die dafür gut bezahlt werden. Meines Erachtens gehört „Das asthenische Syndrom“ zur Familie von Dostojewskis „Armen Leuten“.

Aber im Film kommt noch etwas Emotionales, Geistiges hinzu. Ich meine damit jene Körner des heiligen Zornes, die im Film keimen und die eigentlich unsere heutige Antwort darauf sind, was zur Schaffung einer Gesellschaft der „armen Leute“ geführt hat.

Der Film vermittelt das, was heute jeder einzelne von uns empfindet: schlafen, nicht sehen, nicht hören... Alles. Ende.

Hauptthema des Films ist das Verhältnis zum Tod. Unserer Gesellschaft ist die Kultur einer Beziehung zum Tod verlorengegangen.

Der Film von Kira Muratowa schockiert, das gehört zu seinem ästhetischen Programm. Die Szene mit unanständigen Schimpfworten ist nur ein Vorwand für diejenigen, die eine solche Wirkung nicht akzeptieren. Die Meisterschaft von Kira Muratowa ist bewundernswert. Ihre handelnden Personen sieht und hört sie erstaunlich genau. In keinem anderen Film, bei keinem anderen Regisseur habe ich einen so genauen Tonfall bei den Schauspielern gehört.

Großartig die Harmonie von Bild und Ton, und auch der Mut, mit dem die Regisseurin sie plötzlich zerstört. Der Film will nicht schön und harmonisch sein. Er will unseren Gefühlen nicht schmeicheln. Darin besteht die Herausforderung, das ist der ästhetische und der menschliche Standpunkt der Künstlerin.

Abschließend - einige Worte von Kira Muratowa: „Ich bin der Meinung, es ist ein sehr trauriger Film, wahrscheinlich gibt es in ihm eine für mich persönlich tragische Sackgasse... Natürlich ist er nach der Mode unserer Gesellschaft, unserer heutigen Zeit gekleidet, aber er befaßt sich auch mit allgemein menschlichen Problemen, die mir unlösbar erscheinen... Wir haben da im Film die Hunde in der Schinderei gedreht - die Hunde können nichts sagen, nichts unternehmen, sie warten einfach auf das Ende. Und jetzt sind sie vielleicht schon getötet worden... Ich denke stets daran, und für mich scheint das am wichtigsten zu sein. Die Schinderei ist für mich eine Art Wand oder Sackgasse. Es ist tragisch, daß sich im wesentlichen, an der Krisensituation der Menschheit nichts ändert. Darin besteht das Wesen meines Films“.

Ewgenija Tirdatowa

Kira Muratova, Das asthenische Syndrom, 153 Minuten, UdSSR

19.2. Zoo-Palast 13.00 Uhr

20.2. Kosmos (Ostberlin), 16.30 Uhr

20.2. Urania, 22.30 Uhr