„Meine Freude über die Öffnung der Mauer schlägt jetzt in Angst um“

■ Prof.Julius Posener (85), interdisziplinäre Bezugsgröße für Architekten, Urbanisten und Stadthistoriker, warnt vor der bloßen Vereinnahmung des Ostteils von Berlin

Allein die Aufforderung, in einigen Worten meine Vorstellung über die Art der Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands darzulegen, halte ich bereits für eine Zumutung. Wir sind alle glücklich, daß die Mauer zwischen Berlin und Berlin geöffnet worden ist. Seit dem 9.November aber sind wir mit einer stets wachsenden Fülle von Vorschlägen und Vorstellungen der Wiedervereinigung überschüttet worden und werden weiter von ihnen überschüttet, so daß meine Freude mehr und mehr in Angst umschlägt - Angst vor der Wiedervereinigung der beiden Deutschland, Angst vor der Wiedervereinigung der beiden Berlin. Angst, schließlich, vor einer Mißhandlung der Umgebung der beiden Berlin, dieser wunderbaren Umgebung, in der man die Mark Brandenburg wiedererkennt, wie sie vor sechzig Jahren war; und die, verstehe ich die Anzeichen recht, aufs schnellste mit Häusern und mit Stätten für einen lebhaften Tourismus verschandelt werden soll - im Sinne des Waigelschen „Wirtschaftswunders vierzig Jahre später“, vor dem uns ein gnädiges Schicksal bewahren möge.

Berlin und Berlin sind zwei verschiedene Städte geworden. Die von Westlern fälschlich „Ost-Berlin“ genannte Stadt ist das eigentliche Berlin, die Stadt. „Unser“ Berlin ist eine Sammlung von Vorstädten und Vororten ohne ein echtes Zentrum. Zwischen beiden Städten liegt die langgedehnte freie Fläche, die man den zentralen Bereich genannt hat; und ich sehe schon allerhand Gedanken, Pläne und Plänchen, Skizzen auftauchen, wie mit diesem zentralen Bereich nach der Vereinigung zu verfahren sei.

Ich kann nur sagen: Vorsicht! Keine Eile! Viel nachdenken! Auch: neue Erfahrungen sammeln, ehe man „loslegt“! Hoffen darf man immerhin auf Berichtigungen gewisser Vorgaben; ich denke da insbesondere an des Bundeskanzlers „Historisches Museum“ am Spreebogen, welches, würde es dort gebaut, diese wichtigste Gelegenheit zu städtischer Gestaltung, eben den Spreebogen, entwerten würde. Weg damit auf jeden Fall auf diesem Grundstück! Weg damit überhaupt, möchte ich hinzufügen; denn es war von Kohl als ein Gegenmuseum geplant; und eben dafür dürfte es keinen Grund mehr geben.

Eine andere Frage: Was wird mit dem Potsdamer Platz und dem Leipziger Platz, nachdem die „drüben“ das Warenhaus Wertheim, das ich anno '45 intakt gesehen habe, weggeräumt haben, und nachdem wir die Potsdamer Straße weggeräumt haben? Wieder möchte ich Vorsicht empfehlen, langes Nachdenken: Wir haben es nicht eilig. Schrecken bereitet mir der Gedanke der Vereinnahmung der zurückgebliebenen Oststadt (der eigentlichen Stadt) durch die fortgeschrittene Weststadt.

Daß das zwei Entwicklungen sind, eben das stellt gegenwärtig den Reichtum des ganzen Berlin dar. Diese beiden Entwicklungen, diesen Reichtum, sollten wir respektieren. Wenn es etwas wahrhaft Schreckliches an der Entwicklung gibt, der hocherfreulichen, die seit dem November stattfindet, so ist es die Bestätigung, von der die Waigels und die Kohls meinen, daß sie unserer wunderbaren Leistungsgesellschaft - oder wie immer man das nennen will durch den Bankrott der anderen Seite zuteil geworden sei; als ob das so herrlich ist, was wir hier getrieben haben und treiben.

Ich meine, man würde gut daran tun, all dem, was „drüben“ ist, war - und man möge hoffen -, sein wird, mit Achtung, mit Vorsicht, mit Nachdenken zu begegnen. Oder wollen wir wirklich auf der anderen Seite durch Waigels verspätetes Wirtschaftswunder alle die Fehler wiederholen, die nicht gutzumachenden, mit denen wir das schöne Deutschland westlich der Elbe verschandelt haben?