: „Ich bin Ärztin, keine Dealerin“
■ Rezepte für Drogenabhängige / Diagnose an der Tür / Fünf Monate wegen Körperverletzung
„Sind Sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert“, fragte gestern Amtsrichter Rathke die Zeugin und Geschädigte, Frau Dr. L., obligatorisch vor der Vernehmung. Antwort: „Ich danke dem Herrn, daß nicht!“ Welten prallten am 29. September 1989, einem Freitag, in der Praxis der Frau Dr. L. aufeinander. Gegen halb sechs abends, während die Abrechnungen für das abgelaufene Quartal geschrieben wurden, klingelte es noch einmal an der Praxistür. Der 34jährige Alexander W. und sein Freund K., beide drogenabhängig, wollten von der Ärztin ein Rezept für „Speda“, ein Barbiturat und Ersatzdroge. „Wir haben
an diesem Nachmittag fast die ganze Gröpelinger Heerstraße nach Ärzten abgeklappert“, erinnerte sich der Angeklagte gestern vor dem Bremer Amtsrichter. Als auch Frau Dr. L. ihnen noch in der Tür ein Rezept mit dem Hinweis verweigerte, sie sei Ärztin und keine Dealerin, wurde W. sauer und schlug eine kleine Toilettenfensterscheibe der Praxis ein. W. zog sich dabei stark blutende Schnittwunden zu.
„Darauf habe ich vesucht, den W. festzuhalten, was mir allerdings schlecht bekommen ist“, führte die Ärztin vor Gericht aus. Während sie die Polizei verständigen ließ, klammerte sie sich an W. Im Verlauf des Kampfes bekommt sie einen Schlag ins Gesicht, einen in die Magengegend. Diagnose: Jochbeinfraktur, Gehirnerschütterung, angebrochene Rippen, ein blaues Auge und vier Wochen lang Übelkeit.
Doch das sei letztlich alles nicht so schlimm gewesen, erklärte die Ärztin dem Gericht. Sie sei in den letzten Tagen bei ihrer Krankenhaustagegeld-Versicherung vorstellig geworden, um
ihre Tagessätze erhöhen zu lassen. Doch die werde voraussichtlich abwinken: Da Herr W. stark aus seinen Schnittwunden geblutet habe, bestehe die realistische Möglichkeit, daß sie nun HIV-infiziert sei. „Sagen sie ihren Kollegen, daß ich jetzt eine Knarre in meiner Praxis habe“, drehte sich Frau Dr. L. am Ende ihrer Aussage zum Angeklagten.
Da mußte dann sogar der Staatsanwalt abwiegeln: Trotz der erheblichen Verletzungen dürften die Folgen für Frau Dr. L. nicht dramatisiert werden. Dem
Angeklagten bescheinigte er eine extrem hohe „Frustrationsintoleranz“: „W. stand während seiner Tat unter erheblichem Beschaffungsdruck.“ Mit einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten will er W. eine „allerletzte Chance“ geben.
Dem mochte Amtsrichter Rathke nicht folgen. Er verurteilte W. wegen Körperverletzung zu fünf Monaten ohne Bewährung, in summa mit anderen anhängigen Delikten zu insgesamt acht Monaten.
mad
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