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KRITIK DER ELCHE

■ Reich-Ranicki - Der Bambi-Preisträger als Charakterrezensent

Charakterrezensent

Als oberster Richter der Literatur ist Marcel Reich-Ranicki zwar mittlerweile im Ruhestand, Ruhe gibt er aber noch nicht. Im ZDF hat er seit einiger Zeit als Gastgeber eines Literarischen Quartetts Gelegenheit, vor größerem Publikum denn je seine Urteile zu verkünden. Das wäre nicht weiter schlimm, 30 Jahre lang hat die literarische Öffentlichkeit diesen fest im 19.Jahrhundert verwachsenen Geist ertragen, ihn zum „Literatur-Papst“ und Bambi -Preisträger gekürt - warum den alten Herrn jetzt nicht noch ein bißchen im Fernsehen reden lassen? Zumal in Zeiten allgemeiner Unübersichtlichkeit ein fest im Ewiggestrigen eingeschlagener Pflock als Orientierung nicht schaden kann, wer erinnert sich im Transrapid-Zeitalter nicht gern an die alte Dampflok Thomas Mann und andere Schnauferl. Bei Reich -Ranicki darf man sicher sein, egal wie unvergleichlich, neu oder anders ein zur Rede stehendes Buch ist, er wird es, ganz Modelleisenbahner, an einem Klassiker messen, im Zweifel an einem modernen aus den 50er/60er Jahren. Trotz dieser nostalgischen Schwermacke rauscht freilich die Zeit auch an einem antiquierten Bücherschrank nicht völlig vorbei: daß am 9.November etwas passiert ist, hat Ranicki mitgekriegt und das Thema in den letzten beiden Sendungen angeschnitten. Nicht etwa, um die teutonische Prosa der 'FAZ'-Leitartikel zu rezensieren oder sich zur Literatur nach dem Fall der Mauer zu äußern - das persönliche Verhalten der Schriftsteller in der DDR vor und nach der Wende hat es ihm angetan. Daß Stefan Heym noch immer von Sozialismus redet, findet er „unerträglich“, daß Christa Wolf es neuerdings in einer Rede tatsächlich gewagt hat, von „Utopie“ sprechen, bringt ihn ganz aus dem Häuschen: „Das Wort Utopie ist Infamie geworden.“

Nun mag die Art und Weise, wie sich einige Intellektuelle der DDR mit dem stalinistischen Regime arrangiert haben (und auf sein Ende reagierten), tatsächlich nicht in allen Punkten den moralischen Idealen des klassischen Bildungsromans entsprechen. Wie sich Schriftsteller ja überhaupt, was Opportunismus, Ehrgeiz, Feigheit, Habgier und andere Schweinereien angeht, durchaus nicht von einem Otto Normal unterscheiden, nur daß sie eben beruflich dem ewig Wahren/Schönen/Guten verpflichtet sind, der Kontrast also besonders deutlich wird. Reich-Ranicki war vor seiner Wende in den Westen 1958 selbst lange genug Stalinist, um diesen Zwiespalt zu kennen - in Polen hat er seinerzeit den Zeitgeist bedient und etwa das Werk Heinrich Manns in höchsten Tönen gelobt, in der Bundesrepublik tat er später dasselbe und stampfte es in Grund und Boden. Jeweils mit 1a unerschrockenen Argumenten und Feuerschutz aus dem Casino literarischer Ritterkreuz-Träger - in der Zitat-Waffenkammer der Goethes, Lessings, Fontanes weiß sich der „Anwalt der Vernunft“ (Walter Jens über MRR) bestens zu bedienen: zur Beförderung der jeweils „guten Literatur“ und der immer eigenen Karierre unter bestehenden Macht-und Sittenverhältnissen. Über die Versuche des Ex-Kommunisten Reich-Ranicki, im Westen „Klassenbester in Verfassungstreue“ zu werden, notierte Christian Schultz-Gerstein 1978 im 'Spiegel‘: „Einverstanden sein und mitzumachen, das war schon Anfang der sechziger Jahre Reich-Ranickis Forderung, an Heinrich Böll etwa, dem er empfahl, in seinen Büchern mit der Entwicklung Schritt zu halten.“ Und Böll war dann auch der erste, der Reich-Ranickis aus abendländischem Menschheitspathos und technokratischer Amtsstubensprache zusammengewürfelten Jargon intuitiv historisch-politisch entzifferte: „Wortwörtlich aufgefordert, mit der Entwicklung Schritt zu halten“, so Böll 1964 in seiner Antwort an Reich -Ranicki, „wurde ich zuletzt vor fast genau siebenundzwanzig Jahren, als ein Schulkamerad, wohlwollend, fast schon gütig, mich aufforderte, nun doch endlich, so kurz vor dem Abitur, in die Hitlerjugend einzutreten.“

Derzeit fordert der Opportunist als Moralprediger wieder einmal auf, einverstanden zu sein und mit der Entwicklung Schritt zu halten: wer nicht „Pfui Sozialismus - Hurra Marktwirtschaft“ gröhlt, gilt ihm als „unerträglich“. Daß einem wie Reich-Ranicki das Wort „Utopie“ infam vorkommen muß, wundert nicht: Wer es sich im Bestehenden so selbstwohlgefällig eingerichtet hat, daß er vom Ehrendoktor in Uppsala bis zum Bambi von Burda jeden Scheiß mitnimmt, Hauptsache es steht Reich-Ranicki drauf, dem kann der Gedanke an Überwindung des Bestehenden - Utopie eben - nur als Bedrohung vorkommen. Deshalb schlägt er zurück, und zwar so, wie er es als röhrender Platzhirsch auf dem Literaturmarkt gewohnt ist: mit Urteilen, deren polternde Prägnanz differenzierte Begründungen meist überflüssig macht. Mit dumpfem Entweder/Oder („miserable Literatur„/„luzide Prosa“) läßt sich schon ein Buch in den seltensten Fällen angemessen beurteilen, auf gar keinen Fall aber Charakterstärke und politisches Verhalten. Zumal wenn den Ausschlag die reine Willkür bildet, Reich-Ranickis höchst eigener Oberförstergeschmack. So entblödet sich der Charakterrezensent nicht, in seiner Suada auf die persönlichen Verfehlungen von Leuten wie Stefan Heym und Christa Wolf ausgerechnet den schlimmsten Finger aller SED -Unterschriftsteller, Hermann Kant, in Schutz zu nehmen: der hätte nämlich vor Jahren einmal einen „sehr sehr guten Roman“ geschrieben.

Mathias Bröckers

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