: Hardliner haben die Hardthöhe fest im Griff
In Ost und West wird die Bereitschaft zu Truppenreduzierungen deutlich - nur an Bonn scheint dieser Trend vorbeizuziehen / Stoltenberg hat weder den Mut noch die Fähigkeit, mit einer politischen Initiative auf die veränderten Rahmenbedingungen zu reagieren / Nach wie vor beherrschen kalte Krieger das Bonner Terrain ■ Von Andreas Zumach
Die UdSSR hat ihre Truppen in Osteuropa seit Anfang 1989 einseitig um 260.000 Mann reduziert; aus der CSSR und Ungarn soll die Rote Armee auf Wunsch der neuen Regierungen in Prag und Budapest bis Ende dieses beziehungsweise nächsten Jahres ganz verschwinden; ähnliche Forderungen werden in Polen und in der DDR immer lauter; Moskau und Washington sind bereit, zur Reduzierung ihrer Soldaten in Zentraleuropa im Rahmen eines ersten Abkommens bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Stabilität in Europa (VKSE) auf 195.000 . Die Verteidigungsminister Belgiens und der Niederlande veröffentlichen Planspiele über einen baldigen Truppenabzug aus der Bundesrepublik; selbst Maggie Thatcher läßt - von ihren Haushaltspolitikern dazu gedrängt - laut über eine kräftige Abspeckung der britischen Rheinarmee nachdenken.
Nur an Bonn scheint der allgemeine Trend vorbeizugehen. Die Hardthöhe kann dieses Jahr über ein Rekordbudget verfügen. Auf seiner Bundespressekonferenz zum Jahresanfang plädierte Verteidigungsminister Stoltenberg (CDU) zwar für weitere Reduzierungen der Truppen der beiden Großmächte durch ein zweites VKSE-Abkommen und forderte die Aufnahme von Verhandlungen über atomare Kurzstreckenraketen. Doch die Bundeswehr selbst, so das Credo des Verteidigungsministers Stoltenberg, soll bis 1995/96 eine „Friedenspräsenzstärke“ von mindestens 400.000 Soldaten behalten (derzeit offiziell 496.000, tatsächlich ca. 450.000). Allein Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sprach vergangene Woche auf der „Open-sky-Konferenz“ in Ottawa davon, daß auch die Bundeswehr in die geplanten Personalreduzierungen eingebettet werden müßte.
Bonn erschwert den Abrüstungsprozeß
Maßgebliche Unionspolitiker sowie führende Militärs aber stoßen in Stoltenbergs Horn. Eine starke deutsche Armee wohlmöglich noch in einem neuvereinten Deutschland - wird zum „unerläßlichen Bestandteil eines souveränen Staates“ hochstilisiert.
Derartige öffentliche Signale aus der Hauptstadt des ökonomisch stärksten Landes in Europa erschweren den Abrüstungsprozeß auf dem Kontinent ungemein. Vor dem Hintergrund der in Paris und London mit Mißtrauen beobachteten deutsch-deutschen Entwicklung erhöhen sie nicht gerade die - ohnehin unterwickelte - Bereitschaft der Engländer und Franzosen, ihre Soldaten zu reduzieren. Das wiederum hat bislang zur Blockade in der Personalfrage bei den Wiener VKSE-Verhandlungen geführt, bei denen die Warschauer Vertragsstaaten den Einschluß aller Truppen im Vertragsgebiet zwischen Atlantik und Ural in ein Abkommen fordern.
Die starken Gebärden nach außen entspringen einer Mischung aus Konzeptionslosigkeit, Hardlinertum und übergroßer Vorsicht im Inneren von Hardthöhe und Bundeswehr. Natürlich gibt es Denkansätze, die über das bislang offiziell Verkündete hinausgehen: Die von 'Bild am Sonntag‘ Anfang des Jahres gemeldeten und von der Hardthöhe sofort heftig dementierten Überlegungen über eine Bundeswehr-Reduzierung auf 350.000 Mann und eine Verkürzung der Wehrpflicht auf zwölf Monate („W-12“) existieren tatsächlich - wenn auch noch nicht in Form von Beschlüssen. Mitte Januar erteilte das Ministerium dem Kölner Heeresamt den Auftrag zu untersuchen, wie und mit welchen Konsequenzen für die Bundeswehrstruktur „W-12“ umgesetzt werden könne.
In den Planungsstäben der Hardthöhe wird bereits spätestens seit 1988 kräftig an einer neuen Struktur der Streitkräfte gebastelt, deren Kernstück die „Heeresstruktur 2000“ ist. Ausgangspunkt waren weniger abrüstungspolitische Einsichten als der Druck sinkender Jahrgangszahlen und die realistische Einschätzung, daß die für Militärisches zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel tendenziell knapper werden, und die Personalkosten im Budget reduziert werden müssen.
Am 6.Dezember 1989 nahm das Bundeskabinett den ersten Entwurf einer neuen Struktur zustimmend zur Kenntnis. Für das Heer ist eine Reduzierung von derzeit 340.000 auf 297.000 Mann vorgesehen - bei entsprechenden Ergebnissen der Wiener VKSE-Verhandlungen auf 282.000. Zwar soll es unverändert bei der Aufteilung in drei Korps, zwölf Divisionen und 42 Brigaden bleiben, doch nur noch 16 Brigaden sollen auch in Friedenszeiten voll ausgerüstet und kampfbereit sein. Der Rest soll hinsichtlich Bewaffnung und Personalstärke ganz oder teilweise abgespeckt und erst in Krisenzeiten durch „Aufwuchs“ von Reservisten moblisisiert werden.
Für 1990 ist die detaillierte Planung der neuen Struktur vorgesehen. 1991 sollen dann die notwendigen Entscheidungen zur Stationierung und zur Reihenfolge von Umgliederungen getroffen und zwischen 1993 und 1996 umgesetzt werden.
Kleiner, aber schlagkräftiger heißt die Devise
Die Personalplanung geht einher mit „Modernisierungs„vorhaben bei Ausrüstung und Bewaffnung, die auf größere Mobilität und Schnelligkeit, erhöhte Kampfkraft und Feuerstärke sowie größere Deep-Strike-Fähigkeit gegen gegnerisches Territorium und Sperrfähigkeit auf eigenem Gelände abzielen. Kleinere, aber schlagkräftigere Streitkräfte heißt die mit dem Etikett „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ bemäntelte Marschrichtung der Hardthöhe.
Bei den Personalkürzungen ist der Wegfall mehrerer tausend Wehrpflichtiger, aber nur weniger hundert längerdienender Zeitsoldaten vorgesehen. Denn die starke Kaderung von Verbänden verlangt mehr Führungspersonal und eine bessere Ausbildung vor allem der Unteroffiziere - den „Schritt vom Präsenz- zum Ausbildungsheer“, wie Heeresinspekteur, Generalleutnant Henning von Ondarza, formuliert (siehe auch nebenstehendes Interview). Hier liegt einer der Hauptprobleme für die künftige Planung der Bundeswehr, die sich im zunehmenden „Wettstreit mit anderen Berufsgruppen um den qualifierten Mann“ (Ondarza) sieht.
Dieses Dilemma ruft verstärkt Befürworter einer Berufsarmee auf den Plan. Doch sie sind nach wie vor in der Minderheit und werden es nach vorherrschender Einschätzung im Apparat wie bei Experten außerhalb auch bleiben. Der kürzlich als Leiter des Amtes für Planung und Studien der Bundeswehr geschaßte Flottillenadmiral Elmar Schmähling ist „strikt gegen jede Form von Berufsarmee“ und hält trotz oder gerade wegen der schlechten Erfahrung am eigenen Leib am „demokratischen Prinzip einer politisch eingebundenen Wehrpflichtigenarmee“ fest. Zugleich betont er jedoch, angesichts der „zum Himmel schreienden Behandlung von Wehrpflichtigen als billige Rekruten“ und des „desolaten Zustandes bei der Mobilisierung“ sei die Bundeswehr schon heute „de facto eine Berufsarmee“.
Der Wunsch Bonner Koalitionspolitiker, Reduzierungen von Personalstärken und Wehrpflichtzeiten erst kurz vor dem bundesweiten Urnengang am 2.Dezember als abrüstungspolitische Bonbons wählerwirksam zu verkünden, ist nur ein Grund für die derzeitige öffentliche Zurückhaltung der Bundesswehrplaner. Ihre Hauptsorge: das vorzulegende Reformwerk und die ihm zugrundegelegten Zahlen und Annahmen sollen bis in das neue Jahrtausend hinein „wasserdicht“ sein.
Ein nahezu unmögliches Unterfangen angesichts der rasanten politischen und militärischen Veränderungen, die Europa derzeit erlebt. „Die Hardthöhe traut sich nicht einmal, ihr jährliches Weißbuch vorzulegen, weil sie jeden Tag mehrere Seiten auswechseln müßte“, beschreibt der Major im Kölner Heeresamt und Sprecher der Reformgruppe „Darmstädter Signal“, Helmut Prieß, die Situation. Selbst die Ende der achtziger Jahre nach vielen Mühen ermittelten und für die Planungen der neunziger zugrundegelegten demographischen Daten sind durch die Hunderttausende Aus- und Übersiedler bereits wieder über den Haufen geworfen.
Minister Stoltenberg hat weder den Mut noch die Fähigkeit, mit einer politischen Initiative auf die sich dramatisch verändernden Rahmenbedingungen zu reagieren und das Wursteln in seinem Haus zu beenden. Zwar tritt er weit weniger schneidig oder arrogant auf als seine beiden Vorgänger Wörner und Scholz und ist - so auf der jüngsten Wehrkundetagung - in der Lage, auch einmal offene Fragen und nicht nur festgefügte Weisheiten zu formulieren. Damit hat er sich einigen Respekt auch bei politischen Gegnern verschafft. Doch äußert der Minister keine Vorstellungen, die nicht durch die Stäbe der Hardthöhe und die Bundeswehrführung zuvor hundertprozentig abgesichert worden sind. Hier aber sitzen - mit wenigen Ausnahmen - die Hardliner und kalten Krieger von gestern; neben Ondarza vor allem Generalinspekteur Dieter Wellershof oder der Leiter des Planungsstabes, von Wachta.
Die Grundannahme einer Bedrohung bleibt
„In den politischen und militärischen Führungsetagen der Bundeswehr herrscht seit den Zeiten der Auseinandersetzung um die „Nachrüstung“ Anfang der achtziger Jahre unverändert eine Lagermentalität, die Teilhabe am politischen Denken ist äußerst gering“, äußert ein Hauptmann, der im Süden der Republik seinen Dienst versieht. „Kurs halten“, lautet denn auch der Tagesbefehl, den Ondarza zum Jahreswechsel an seine Jungs richtete.
So wird für die Bundeswehrplanung denn auch weiterhin ein Bedrohungsszenario zugrunde gelegt, das, wenn es denn je realistisch war, heute mit Sicherheit hinfällig ist: ein Angriff der UdSSR in Zentraleuropa. Zwar wird konzidiert, daß ein solcher Angriff angesichts reduzierter sowjetischer Truppenzahlen „nicht mehr auf der ganzen Breite der Front“ (Ondarza) erfolgen würde, sondern „an für den Gegner besonders günstigen Frontabschnitten“. Doch die Grundannahme von der Bedrohung bleibt, die veränderten „operativen“ Bedingungen dienen zur Begründung der Forderung nach mehr Mobilität der eigenen Verbände, nach Offenhalten der Möglichkeit von zumindest „zeitweisem“ Eindringen auf gegnerisches Territorium, sowie nach Anschaffung neuer, flexibel einsetzbarer Waffensysteme mit „intelligenter“ Munition, größerer Reichweite und Präzision, Feuer- und Zerstörungskraft.
Unterhalb der als rein defensiv bezeichneten Strategie der Vorne-Verteidigung werden auf der operativen Ebene damit immer mehr offensive Elemente eingeführt. In einem Interview mit der Zeitschrift 'Wehrtechnik‘ machte Ondarza im Dezember deutlich, wie nahtlos sich diese Planungen in das Air-Land -Battle-Konzept der USA einfügen, gegen dessen Übernahme durch die Verbündeten sich Wellershofs Vorgänger Altenburg zumindest anfänglich innerhalb der Nato noch eingesetzt hatte.
Die Kritiker, für die die Annahme einer sowjetischen Bedrohung nicht mehr oder zumindest in weit geringerem Maße als je zuvor gilt, bemängeln das Fehlen klarer Kriterien für die genaue künftige Personalstärke der Bundeswehr beziehungsweise der Armee eines künftigen Gesamtdeutschland. „Das ist ein Glaubensbekenntnis“, erklärt Hauptmann Prieß. Sein „Darmstädter Signal“, Schmähling und Experten bei der SPD forderten in den letzten Monaten eine Reduzierung auf 200.000 und 300.000 bis Mitte der neunziger Jahre.
Egon Bahr kann sich auch eine Größenordnung „zwischen Null und 200.000“ vorstellen, wenn dies den - aus Erfahrung mit den Deutschen begründeten - Wünschen der Nachbarstaaten entspreche. Prieß votiert aus ähnlichen Motiven für eine „freiwillige“ Reduzierung auf 100.000, eine Größenordnung, die die Siegermächte Deutschland im Versailler Vertrag verordneten.
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