: Von Neulasten zu Altlasten zu Uraltlasten...
Das Industriewunder Spanien ist vom Müll überfordert / Der Fluß Llobregat, von dem Barcelonas Trinkwasserversorgung abhängt, wird als private Industriemülldeponie benutzt ■ Von Annette Bruhns
Wenn Senor Meca, Müllbeauftragter der spanischen Bayer -Tochter PESA (Productos Electroliticos S.A.), erzählt, wie einfach er es früher mit der Beseitigung seines schwarzen Sondermülls hatte, kommt er ins Schwärmen. Bis zum Beginn der achtziger Jahre kippte die Firma den Abfall, der bei ihrer Herstellung von Chromprodukten aufkam, ungestört in das Erdreich im Umfeld von 30 Kilometern um die Fabrik in Prat. Gruben, aus denen Bausand ins benachbarte Barcelona transportiert worden war, oder Dünenmulden am Mittelmeer boten sich an.
„Diese Art der Abfallbeseitigung ist nicht mehr möglich, weil das Gelände heute durchweg besiedelt ist“, seufzt der Müllmanager und rechnet die Kosten für die „kontrollierte Deponie“ vor, in der heute der Jahresabfall von 20.000 Tonnen entsorgt wird. Von den Kosten für die Sanierung des chromverseuchten Erdreichs und der chromvergifteten Brunnen will er nichts wissen. Daß Chrom krebserregend sei, gibt er nicht zu, obwohl der Beweis dafür in Bayer-eigenen Labors erbracht wurde. Die deutsche Zentrale streitet hingegen die Verantwortung für die Altlasten ab, weil sie PESA erst 1981 hauptanteilig übernommen habe. In Leverkusen will man nicht zugeben, daß rechtlich gesehen Altlasten „mitgekauft“ werden.
Doch Bayer braucht keine Angst davor zu haben, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Im Gegenteil, die Müllbehörde der Provinz Katalonien (Hauptstadt Barcelona) brüstet sich in ihren Statistiken mit der Existenz dieser „Sondermülldeponie“. In ganz Spanien gibt es neben Bayers Privatdeponie nur noch eine weitere legalisierte Deponie für gefährlichen Industriemüll.
Spanien wirbt Investoren mit laschen Umweltauflagen
Dieser desolate Zustand der Müllentsorgung ist eine Konsequenz spanischer Politik: schnellstmöglicher Aufbau einer hochentwickelten Industrie trotz des Mangels an Eigenkapital und Know-how. An dieses Rezept gegen Arbeitslosigkeit und Armut glaubte Franco, glauben heute die Sozialisten und selbstverständlich die rechte Opposition. Während früher ausländische Konzerne mit niedrigen Arbeitslöhnen gelockt wurden, winkt ihnen heute die Möglichkeit, schärfere Umweltauflagen im Heimatland zu umgehen.
Dabei gelten theoretisch auch in Spanien die EG-Grenzwerte. Wer garantiert jedoch ihre Einhaltung? Da es kein eigenes Umweltministerium gibt, hat das letzte Wort in Sachen Umwelt der Bauminister, in dessen Kompetenzbereich unter anderem die Umweltbehörde fällt. Auf der einen Seite muß er Platz für Industrieanlagen nachweisen, auf der anderen die Nachweise für Umweltverträglichkeit einfordern. Da neue Industrie (mit neuen Arbeitsplätzen) Vorrang hat, muß der zuständigen Umweltbehörde in der Provinz das Versprechen einer Firma genügen, daß diese zukünftig ihren Sondermüll entsorgt. „Und sei es durch Export nach England“, wie der katalanische Müllbeauftragte achselzuckend erklärt, wohlwissend, daß keine Firma in Spanien diese Kosten tatsächlich aufbringen würde. „Wir können doch die Industrie nicht ausbaden lassen, daß wir mit dem Bau von Mülldeponien hinterherhinken.“ Nach Daten über Industrieabfallmengen und deren Verbleib gefragt, muß er passen. Vielleicht anderthalb Millionen Tonnen Sondermüll im Jahr? Nein, das wäre wohl doch zuviel, beschwichtigt er und verrät, daß Katalonien mit der Bestandsaufnahme von rund zwei Drittel seines Müllaufkommens an der Spitze aller spanischen Provinzen stehe.
Ausmaß der Verschmutzung nur abzuschätzen
Das Fehlen von Daten ändert nichts an den Fakten: zum Beispiel der Zustand des Trinkwasserflusses Llobregat bei Barcelona. Trinkwasserfluß für die Vier-Millionen-Stadt. An seine Ufer schließt sich das städtische Industriegebiet an. Dazwischen schlängelt sich eine Autobahn am Fluß entlang, an deren Rändern der Reisemüll der Autofahrer gärt. Die Industrien nutzen das Gelände zwischen Autobahn und Fluß als „Privatdeponien“ - von der Müllbehörde geduldet.
Fast auf jeder dieser Deponien lebt unter elenden Verhältnissen eine Familie. „Ich bin der Präsident der Fliegen“, stellt sich ein ausgemergelter Mann vor. Das ist kein Scherz, sondern Ausdruck seiner Lebensphilosophie. Er ernährt sich und seine Familie vom Verkauf von Alteisen, das Kilo zu 9,5 Pesetas (0,17 DM). - Der Anblick des Flusses, zu dem man nach einer Kletterpartie über Müllberge gelangt, überrascht kaum noch. In die stinkende Flut kullern von beiden Seiten alte Autoreifen, Scherben und Plastik. „Schuttabladen verboten“ heißt es endlich auf einem Schild vor einer imposanten Schlucht weit oberhalb des Flußlaufs. Die Deponie der Gemeinde Olesa, die bis vor wenigen Jahren die herrliche Schlucht entweihte, gilt als stillgelegt. Begraben in der Schlucht liegen noch die Brandrückstände einer Pestizidfabrik, Dosen mit Resten hochtoxischen Methylparathions. Strafe hat die Firma Sulfatex zwar wegen des Brandes 1984 bezahlt, der den Llobregat, an dessen Ufer die Pestizidfabrik stand, in ein Massengrab für Fische verwandelte. Dabei wurden aber nicht die Kosten für die Beseitigung des Brandschutts berücksichtigt. Er war übersehen worden, da er von der Feuerwehr eilig in die Schlucht bei Olesa gebracht worden war.
Neira Santi lebt seit Jahrzehnten auf der Deponie - damals als Alteisenhändlerin, heute, weil sie sich den Umzug nicht leisten kann. Sie erzählt, daß sie nach dem Brand von Fremden beauftragt wurde, gewisse „Dosen“ aufzusammeln - für den für sie enormen Preis von 25 Pesetas pro Dose. Bald litt sie an Vergiftungserscheinungen, Folgen des Kontakts mit Methylparathion, dem Pestizid, von dem noch Spuren in den Dosen vorhanden waren. Erst als ihr Sohn Lähmungssymptome zeigte, beendete sie das lukrative Geschäft mit den Männern von Sulfatex und ging zur Gemeindeverwaltung. Die Behörde indes kam Sulfatex entgegen, indem sie selbst das Corpus delicti verschwinden ließ. In Ermangelung einer abgesicherten Aufbewahrungsmöglichkeit wurden die unverbrannten Giftdosen in den Boden der Schlucht versenkt. Dabei wird in Kauf genommen, daß das Restgift in den Fluß gelangt, und so möglicherweise in die Häuser der Einwohner von Barcelona - als „Trink„wasser...
1990: Regierung gegen Umweltschützer
Nicht zuletzt, weil die EG Spaniens Müllentsorgung schon mehrfach gerügt hat, will die Regierung in diesem Jahr zur Tat schreiten. Der seit 1983 versprochene Müllplan ist fertig. In Katalonien ist er als erstes der Öffentlichkeit vorgelegt worden.
Die Umweltschützer mahnen, daß die Projekte nicht umweltgerecht geplant seien und überdies Müllvermeidungsstrategien nicht ausgeschöpft würden. Bohrend fragen sie die Bauverwaltung, warum denn die Entsorgung einer Tonne Sondermüll bis zu 40.000 Pesetas (über 600 DM) kosten soll. Eine Gretchenfrage, denn: Bei diesem Preis wird die Industrie bei ihrer bewährten Methode bleiben, den Müll „verschwinden“ zu lassen - an den Ufern des Llobregats ist noch Platz. Deklariert als „Abfallexport nach England“, versteht sich...
Die Bekanntgabe der geplanten Sondermülldeponien und Müllverbrennungsanlagen hat heftige Empörung hervorgerufen. Umweltschützer und Betroffene demonstrieren seit Mitte Januar - für Spanien eine Neuheit, denn „Umwelt“ steht noch ganz unten auf der Rangliste politischer Streitthemen. Sogar 22 Bürgermeister haben ihren Rücktritt erklärt - angeblich aus ökologischen Bedenken. Den letzteren mag es um höhere Entschädigungen für die stinkenden Anlagen gehen, den Betroffenen „nur“ um ihre eigene Haut. Doch selbst wenn es nur wenigen wirklich um eine allgemeine Neuorientierung in bezug auf Müllentsorgung geht - der Umwelt dürfte der Widerstand nur nützen.
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