piwik no script img

Die Betrogenen von Tschernobyl wehren sich

Hungerstreiks in der Sowjetunion: Menschen, die nach dem GAU in Tschernobyl arbeiteten, verlangen Aufklärung / Behörden verweigerten bislang Auskunft über Ausmaß der Krankheiten / Statt dessen diagnostizieren sie bei den Verseuchten „Strahlenphobie“  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Immer mehr werden sich die Menschen in der Sowjetunion über das „größte Unglück des Jahrhunderts“ - wie der GAU von Tschernobyl jetzt in der Öffentlichkeit genannt wird - und seine Folgen bewußt. Zeitungen wie 'Iswestija‘ und 'Komsomolkaja Prawda‘ nehmen zum Thema Tschernobyl und Atomkraft schon lange kein Blatt mehr vor den Mund. Vor allem in den vergangenen Wochen gab es dazu viel zu berichten, denn in Swerdlowsker, Moskauer und Charkower Krankenhäusern sind Dutzende von Strahlenopfern in den Hungerstreik getreten oder drohten damit.

Es handelte sich dabei nicht etwa um Personen, die während des GAU in und um Tschernobyl lebten, sondern um sogenannte „Liquidatoren“, die als Wehrdienstleistende, Techniker oder Arbeiter in den Jahren nach der Katastrophe an der sogenannten „Beseitigung der Folgen“ mitwirken mußten oder wollten. Dieser Kreis umfaßt heute einige Hunderttausende Personen, von denen Tausende bereits erkrankt sind. Ihr Anspruch, man möge sie über die mit diesem Einsatz verbunden Gefahren aufklären, wurde damals wie heute zynisch mißachtet. „Wir selbst haben die Anzeigen auf den Strahlungsmeßgeräten nie zu Gesicht bekommen“, berichtet ein Bauingenieur in der 'Iswestija‘, „nach der Arbeit wurden sie schnell weggeschlossen.“

Manche der Kranken mußten feststellen, daß Angaben auf ihren Karteikarten gefälscht worden sind. Und in fast allen Fällen beschied man sie: „Ihre Krankheit ist mit den Arbeiten am Unfallort nicht ursächlich verbunden.“ Die Auswahl von Scheindiagnosen reicht von „Alterserscheinungen“ über „Plattfußfolgen“ sowie Folgen eines „unordentlichen Geschlechtslebens“ (bei Prostatageschwüren) oder der „übermäßigen Nahrungsaufnahme während der Unfallbeseitigungsarbeiten“. Die gewitzteste Diagnose ist und bleibt aber „Strahlungsphobie“. Die Kranken, zuvor rücksichtslos mißbraucht, werden jetzt psychisch diskriminiert.

Aber auch Ärzte, die im Gespräch die Zusammenhänge zwischen den Krankheiten und der Strahlung eingestehen, verleugnen diese in den Dokumenten. Den Grund enthüllte die 'Istwestija‘ Anfang des Monats in ihrem Artikel „Sonderzone der Medizin“: Seit 1986 existierte beim Zentralen Ministerium für Gesundheitswesen der UdSSR ein Erlaß, demzufolge Erkenntnisse über „Gesundheitsschädigungen des zur Beseitigung von Unfallfolgen in Tschernobyl eingesetzten Personals“ der strikten Geheimhaltung unterlagen. Auch dieser Ukas selbst wurde gleich für geheim erklärt.

„Früher arbeitete ich beim U-Bahnbau und hatte meine 360 Rubel im Monat, jetzt habe ich ständig Kopfschmerzen, fühle Übelkeit und Schwäche“, berichtet in der 'Komsomolskaja Prawda‘ Walerij Breslawez aus Charkow. Als „Invalide 3. Kategorie“ bekommt er jetzt 60 Rubel Rente im Monat. Allerdins sind einige Gemeinden bereit, lokal auszugleichen. So werden in Swerdlowsk den Betroffenen materielle Vergünstigungen eingeräumt, wie sie auch die Invaliden des Zweiten Weltkrieges erhalten. Die hungerstreikenden Tschernobyl-Opfer in den dortigen Krankenhäusern stellten ihre Aktion ein, nachdem der Chef des Röntgen- und Strahlungsinstituts der Hauptgesundheitsverwaltung aus Moskau an Ort und Stelle ihre Leiden als Strahlungsfolgen anerkannte.

Auch in Charkow hatten einige dutzend Kranke erst mit der Hungerstreikdrohung Erfolg: eine Charkower Delegation konnte sich im Moskauer Gesundheitsministerium überzeugen, daß der ominöse Geheimhaltungsbefehl durch einen Gegenerlaß im August letzten Jahres aufgehoben wurde. Nur: es wußte niemand davon! Außerdem versicherte man ihnen, daß bald in vier Sowjetrepubliken entsprechende Expertenkommissionen den Ursachen ihrer Krankheit und Zusammenhängen mit Verstrahlung nachgehen sollen. „Damit kann allerdings die Geschichte kaum zu Ende sein“, konstatieren die Berichterstatter der 'Iswestija‘: „Es ist schon klar, daß in der Staatskasse heute die Mittel fehlen, um Hunderttausenden von Leuten zu helfen. Aber es darf nicht mehr geheuchelt werden! Wir brauchen eine öffentliche Diskussion der Probleme aller 'Tschernobyler‘.“ Dies fordert auch die „Gesellschaft Tschernobyl“, die verantwortungsvolle Wissenschaftler, Engagierte und Betroffene im letzten Jahr gründeten. Sie verfügt inzwischen über den Grundstein zu einer Datenbank, die an Umfang die japanische Schwestereinrichtung zur Registrierung von Hiroshima-Folgen übertreffen wird. Vertrauensärzte der Gesellschaft wurden jetzt als Staatliche Gutachter im Falle eines hartnäckigen Hungerstreikenden nach Moskau bestellt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen