: Vierzig Jahre letzter Schrei
■ Ein kleine Geschichte der Mode in der Bundesrepublik Deutschland
Hubert Spiegel
Ob lautstark und aus vollem Halse oder dezent und betont wohlklingend aus formvollendet gerundeten Lippen - der letzte Schrei ist kein Blick, keine Geste, kein leises Wort. Der letzte Schrei bleibt stets ein Schrei, und seine Bedeutung ist, unabhängig von Lautstärke und Tonfärbung, immer dieselbe, 1949 nicht anders als 1989. Der letzte Schrei heißt stets: „Seht her!“, und seine Sprache ist die Mode. Der letzte Schrei ist ein Kampfruf und der Kampf ein Spiel, das nie zu Ende geht.
1947 stellt Christian Dior in Paris seine neue Kollektion vor und erregt großes Aufsehen. Diors dernier cri heißt New Look und wird zwei Jahre später, das Grundgesetz ist gerade verkündet, in Hamburg gezeigt. Die deutschen Modesalons greifen Diors Entwürfe begierig auf - die deutsche Frau hat lange genug deutsch ausgesehen. „Schick, schön und klug“ hatte sie sein sollen, die „deutsche Frau der Zukunft“. So jedenfalls wollte es Magda Goebbels, die Vorsitzende des 1933 gegründeten Deutschen Modeamtes: „Die Männer sind sehr männlich in Deutschland, und daher müssen die Frauen so weiblich sein wie nur irgend möglich. (...) Der Gretchentyp ist endlich überwunden.“ Sie selbst wollte mit gutem Beispiel vorangehen: „Denn ich halte es für meine Pflicht, so schön auszusehen, wie ich kann.“ Nach zwölf Jahren treuer Pflichterfüllung trägt die deutsche Frau 1945 Trümmer von den Straßen der zerbombten Städte und auf der mühsam geretteten Haut umgearbeitete Decken, Vorhänge und Uniformen.
Doch schon im Oktober des gleichen Jahres erscheint das erste Heft des 'Berliner Modeblattes‘. Im März 1946 veranstaltet die Zeitschrift in der „Femina-Bar“ die erste Nachkriegsmodenschau Berlins. Und in der Festschrift einer Krefelder Textilfirma wird es später heißen: „Mitte April 1945 ist das Haus gesäubert; die Produktion setzt wieder ein.“ Ein frühes Beispiel, aber wohl kein Einzelfall.
Die Nachfrage ist groß. Männer sind knapp, heißumkämpfte Mangelware, wie eigentlich fast alles in jenen Jahren. Ein Trauma, das sich bis weit in die fünfziger Jahre auswirken sollte. Die Mannequins auf den alten Fotos wirken wie bläßliche Backfische, die unbedingt erwachsen aussehen möchten - die Traumfrau damals ist Hausfrau. Später, gegen Ende der Siebziger, ein ganz anderes Bild: Verzweifelt gepflegte Vierzigerinnen wollen um jeden Preis für die Schwestern ihrer Töchter gehalten werden. Mittlerweile ist fast alles erlaubt, außer Mutter zu sein und auch noch so auszusehen. Auch das sollte sich bald ändern. Mitte der achtziger Jahre taucht das Schlagwort von der „Neuen Mütterlichkeit“ auf: Man trägt wieder Kind.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, als 1945 die erste deutsche Nachkriegskollektion entsteht. Hans Saeger, dessen Stofflager in den Kellern seines Modehauses in Berlin den Krieg unbeschadet überstanden hat, arbeitet allerdings noch nicht wieder für die Berlinerinnen. Die haben vorerst kein Geld. Das haben die Russinnen, Saegers erste Kundinnen, zwar auch nicht, aber sie können mit Naturalien zahlen. Noch bevor die ersten Rosinenbomber während der Berlin-Blockade über der geteilten Stadt brummen, haben die Berliner Modehäuser, Staebe-Saeger, Gehringer & Glupp oder H.W. Claussen, Niederlassungen in Westdeutschland eröffnet. Berlin, das ehemalige „natürliche Zentrum der deutschen Bekleidungsindustrie“, ist vom westdeutschen Markt nahezu abgeschnitten. Die Filialen im Westen sind aber auch eine politische Rückversicherung. Es herrschen unsichere Zeiten. Man will für alle Fälle gewappnet sein.
Noch sieht die deutsche Nachkriegsfrau genau so aus, wie sie schon während des Kriegs ausgesehen hatte: der Rock kurz, die Schultern breit und die Frisur hochgekämmt. Aber der modische Anschluß ist schnell gefunden, schneller noch als der politische. Als 1954 die Pariser Verträge geschlossen werden und die Bundesrepublik der Nato beitritt, stehen die deutschen Modeschöpfer bereits in dem Ruf, sie würden die Pariser Haute Couture „erst tragbar“ machen. Diors New Look ist zu diesem Zeitpunkt schon wieder Vergangenheit. Die „Tulpenlinie“ macht Furore, ein schmaler Rock betont die Hüften, die Taille wird möglichst eng gehalten. Über dem Tulpenstil bildet das Oberteil, drapiert und mit freizügigem Dekollete versehen, die je nach Trägerin mehr oder weniger blühende Blume. Die kargen Jahre sind vorüber, man(n) möchte wieder ins volle greifen, schnallt den Gürtel ein, zwei Löcher weiter, spricht vom „Busenlook“ und denkt dabei an Marilyn Monroe, Sophia Loren oder Gina Lollobrigida.
Daß 1958 der Deutsche Bundestag die allgemeine Abrüstung fordert und gleichzeitig beschließt, die zwei Jahre zuvor eingerichtete Bundeswehr mit modernsten Waffen auszurüsten, nimmt die modebewußte Dame im Cocktailkleid zur Kenntnis. Das Cocktailkleid, ein Mittelding zwischen elegantem Nachmittags- und großem Abendkleid, paßt praktisch zu allen Anlässen des Bürgertums ab 17 Uhr und ist das Bekleidungsstück der blauen Stunde.
Es geht vorwärts, aufwärts, und alles ist wieder gut. Zu gut, wie manche finden. Die sechziger Jahre werden eine unruhige Zeit. 1962 ist der Südweststaat Baden-Württemberg gerade zehn Jahre alt, und die junge Republik hat ihre erste große Regierungskrise. Die „Spiegel-Affäre“ kostet Strauß seinen Ministersessel, der „Alte von Rhöndorf“ steht im letzten Jahr seiner Kanzlerschaft, und während die lange Ära Adenauers ihrem Ende entgegenwankt, starrt die Modewelt nach London und sieht - Beine, nichts als Beine. Die junge Engländerin Mary Quant stellt ihre ersten Entwürfe in 'Vogue‘ aus. Drei Jahre später, 1965, beherrschen ihre Miniröcke die Szene, und Mary Quant ist weltberühmt.
Bereits in den fünfziger Jahren hatte sie kurze Hängekleider entworfen, doch der Erfolg ließ auf sich warten. Die Zeit war wohl noch nicht reif für diesen spitzen, kurzen Schrei - den Minirock. In seiner Autobiographie Je suis couturier hatte sich der so zeitlos wirkende Dior zur Zeitbedingtheit der Mode bekannt und behauptet, Mode atme geradezu mit den Ereignissen. Die sechziger Jahre scheinen wie geschaffen, Diors Kredo zu bestätigen. Mode wird Massenware, und nicht mehr nur die elitäre Haute Couture setzt die Trends. Billige Kunstfasern, vielfach Nebenprodukte der militärischen Forschungen während des Zweiten Weltkriegs, setzen sich endgültig durch, und die Mode wandelt sich, vielleicht fundamentaler als je zuvor.
Die Zeit der großen Couturiers war vorüber. Die Philosophie eines Dior oder eines Balenciaga (der bezeichnenderweise just 1968 resigniert sein Atelier schloß) war der Dienst am Schönen schlechthin. Mode war ihnen die Dienstmagd weiblicher Schönheit, eine Helferin im ewigen Titanenkampf gegen die Vergänglichkeit. Ein Kampf, so ungleich, daß jedes Mittel erlaubt ist. Zumal die Schönheit noch bei der größten Anstrengung eine gute Figur machen muß, sich nie etwas anmerken lassen darf. Ein hartes Los, aber ihre Jüngerinnen trugen es geduldig. Die Frauen, so scheint es, waren noch recht simple Geschöpfe, die nur eines im Sinn hatten. Maggy Rouff 1942 in ihrer Philsophie de l'elegance: „Was sucht das Gefühl der Frau zu allen Zeiten?... Was erwartet sie von der Kunst?... Wenn sie im dunkeln tappt und in die Irre geht, was will sie dann? Dieses unaufhörliche, unermüdliche Streben, was erhofft es? Es ist der ewige Anruf der Schönheit.“
So weit, so schön. Aber in den sechziger Jahren gesellte sich zur Sucht nach der Schönheit noch das Verlangen nach Freiheit. Das war schon weniger harmlos und wurde gar nicht gern gesehen. Waren wahre Schönheit und natürliche Eleganz bislang Privilegien der besseren Kreise gewesen, so richteten sich die neuen Modeideale nun an ganz andere, breitere Schichten. Ob es nur die Mode selbst war, die das Zauberwort Demokratie entdeckt hat, oder bloß der schnöde Markt, jedenfalls prallten Generationen aufeinander - und mit ihnen Ideo logien.
Die Trägerinnen der Modelle Diors oder Balenciagas standen an der Spitze einer gesellschaftlichen Hierarchie, die zwei Weltkriege unbeschadet überstanden hatte, in Deutschland nicht anders als in Frankreich. Diors Kreationen wurden als „letzte einheitliche Kulturschöpfung“ der Pariser Ateliers bezeichnet, und der Meister selbst, als „genialer Künstler“ apostrophiert, soll in seinen gelungensten Schöpfungen dem Geiste Marcel Prousts gehuldigt haben. Luxus war etwas Unentbehrliches, erlesene Kleidung für den Dichter eine Offenbarung, und ihre Toilette konnte eine Frau zu Prousts Zeiten noch einhüllen wie der „zarte, vergeistigte Apparat einer ganzen Kultur“. Sie bedurfte dieses Apparates, sie unterstützte ihn, und zuzeiten verkörperte sie ihn sogar. Für Diana Vreeland, legendäre Redakteurin von 'Harper's Bazar‘ und 'Vogue‘, jahrzehntelange Herrin über die Leitlinien der amerikanischen Modeästhetik, über fashion and face, gehörte die Herkunft, das unverwechselbare Flair der großen, alten Familien, unbedingt zu einer distinguierten Schönheit. Schönheit ohne Tradition war noch immer undenkbar. Die Restauration roch zwar schon deutlich nach Mottenkugeln, aber noch immer waren ihre Repräsentantinnen exquisit gewandet.
Mary Quant sah dagegen die Zeit einer neuen Frau gekommen, die kein gesellschaftliches System repräsentierte, sondern ein Lebensgefühl verkörperte. Sie wollte Mode für wagemutige Frauen entwerfen, die ein aufregendes Leben voller Herausforderungen führten. Für Mary Quant lagen Weiblichkeit und Wirkung einer Frau zuerst in der Haltung, dann erst in der Erscheinung: „A fashionable woman wears clothes, the clothes don't wear her.“ Ausschlaggebend für das gesamte Erscheinungsbild aber war der „Sex-Appeal“. Von nun an wollten Frauen nicht mehr „schön sein“, sondern „gut aussehen“. Schönheit, das war ein traditioneller, ein absoluter Wert, und man war gerade dabei, mit derlei kräftig aufzuräumen.
Die kurzen Röcke bescherten den Frauen unbekannte Bewegungsfreiheit, nur setzen konnten sie sich nicht. Sie gingen trotzdem zu Sit-ins, und während die Röcke der Frauen immer kürzer wurden, wurden die Haare der Männer langsam länger. Man sprach von freier Liebe. Die sexuelle Revolution hatte begonnen.
Über die Ergebnisse ließ sich natürlich trefflich streiten. Befreit der Minirock tatsächlich seine Trägerin, oder senkt er nur die Moral? Dient er der Emanzipation der Frau, oder bedient er nur den männlichen Voyeur? Dazu der Kulturwissenschaftler Bazon Brock im Rückblick: „Aber hatte man geglaubt, durch das Höherrutschen des Rockes auch leichteren Zugang zu dem, was unterm Rock ist, zu erreichen, so sah man sich getäuscht, als Mann.“ So kann es einem gehen, als Mann. Aber auch die Frauen bekamen allmählich Zweifel. Denn diese Mode war nicht für Frauen gemacht, sondern für junge Mädchen. Es herrschte, allen Freiheitsrufen zum Trotz, das absolute Modediktat: lange Beine, schmale Hüften, vorpubertäre Brüste und unübersehbares, besorgniserregendes Untergewicht waren das Ideal. Wer dem nicht entsprach, stürzte sich von einer Hungerkur in die nächste und drückte sich verzweifelt den Busen platt. Die Frauenzeitschriften zeigten spillerige Geschöpfe mit großen Unschuldsaugen und propagierten jede Woche eine andere Schlankheitskur. Es war Twiggy-Zeit.
1966, ein Jahr nach den Notstandsdebatten, setzt die Wirtschaftskrise ein, die zwei Jahre zuvor gegründete NPD verzeichnet bei den Landtagswahlen erschreckende Erfolge, und die große Koalition unter Kiesinger übernimmt die Regierung. Twiggys Gesicht wird vom 'Daily Express‘ zum „Face of the Year“ gekürt. Cecil Bea ton, 'Vogue'-Photograph, nennt Twiggy einen „gewichtslosen Marshmallow“, andere Kritiker bezeichnen das Schönheisideal der Sechziger als „wandelnden Kleiderständer“. In die Verträge der Mannequins werden die exakten Maße aufgenommen. Wer zulegt, fliegt.
Im Laufe der sechziger Jahre gehen der rührige Fortschrittsglaube der Fünfziger und eine noch ungezügelte Technikbegeisterung eine kuriose Allianz ein. Am Ende des Jahrzehnts betritt der erste Mensch den Mond - die Zukunft hat begonnen, wieder einmal. Aber schon in den Jahren zuvor wird es zunehmend futuristisch. Cardin schneidet Löcher in seine Modelle (Guckloch-Look), andere favorisieren den Transparent-Look, durchsichtige Stoffe, die ohne Dessous getragen werden. Das ist nun wirklich nicht neu, aber immer noch gewagt. Die Schnitte sind betont funktionell und konstruktivistisch, geometrische Muster sind beliebt, vielfach werden Motive der Op-art variiert. Dazu passend kurze, exakt geschnittene Haare und flache Schuhe oder Stiefel. Die Frau wird nicht mehr angezogen, sie wird designed und durchgestylt, und ihr ganzes Erscheinungsbild verweist geradezu auf einen technischen Produktionsprozeß: Die Modemaschinerie hat ihr Inneres nach außen gekehrt.
Die Kritik läßt nicht lange auf sich warten: zu kalt, zu nüchtern, zu sachlich, heißt es. Und vor allem: Der gerade erst mühsam in Gang gekommene Emanzipationsprozeß scheint völlig auf der Strecke geblieben. Die uniform gestylte Frau suggeriert nicht zuletzt die generelle Form- und Verfügbarkeit. Einen Ausweg scheint ein typisch männliches Bekleidungsstück zu bieten: Die Hose soll die Frau befreien. Schon 1965 hatte Courreges behauptet: „Die Frau will, muß und wird frei sein. Ich unterstütze sie mit meiner Kleidung. Am harmonischsten ist die Frau nackt: Ich kleide ihre Nacktheit. Wer sich völllig frei bewegen will, muß Hosen tragen.“
Das (vorläufige) Ende des Minirocks ist gekommen. 1970 konstatiert Patrick de Barentzen in Rom: „Ewig Beine zu sehen macht die Welt gähnen.“ Ein Ära geht zu Ende, aber die sechziger Jahre haben Zeichen gesetzt, die bis heute unübersehbar sind. Die absolutistische Herrschaft der großen Modeschöpfer ist gebrochen und mit ihr die Dominanz der Haute Couture; der Ruf nach „mehr Demokratie“ ist, wie woanders auch, erklungen, vorübergegangen und hat Spuren hinterlassen. Die sechziger Jahre haben die Jugend entdeckt. Und die Jugend hat die Mode als ihren Verbündeten erkannt und sich der Anti-Mode verschrieben. Die Bücher, die man las, die Filme, die man sah, die Musik, die man hörte, vor allem aber die Kleider, die man trug - sie waren Protestsignal, Kommunikationsmittel und ideologisches Glaubensbekenntnis. Vietnam und Flower-Power, die Studentenrevolte und später der „Deutsche Herbst“, die Öko und die Friedensbewegung, sie alle brachten auf die eine oder andere Weise erst eine eigene Mode hervor und wurden dann selbst zur Mode. Den sechziger Jahren verdankt die Mode jene beiden Kräfte, von denen sie heute in erster Linie lebt: das Phönomen der Anti-Mode und das einzige noch gültige Mode-Axiom: „Sei jung!“
In den Siebzigern war man bemüht, die Wogen des letzten Jahrzehnts zu glätten. Man wurde nüchterner, dachte praktischer, gerierte sich pragmatisch und marschierte in Overall und Latzhose durch die Institutionen. Man entdeckte die Umwelt und den Gesundheitsschuh, aber auch die Flatter -und-Rüschen-Romantik und die Folklore; späte Ausläufer von Flower-Power. „Der Grundtenor (...) hieß: demokratische Gleichheit“ (Heike Janson); und in ihrem Gefolge wogte eine unpolitische Nostalgiewelle. Mode bekam zunehmend Spielcharakter, man übte sich im Stilwechsel. Kleidung hörte auf, Ansichten, Lebensstil oder Persönlichkeit auszudrücken
-statt starren Gesinnungen wechselnde Stimmungen.
Die achtziger Jahre schreiben dieses Bild fort. Modemacher feiern die grenzenlose Freiheit. Wenn auch manches nicht zum Aushalten ist, tragen kann man im Prinzip alles. Die erzieherische Maxime einer Diana Vreeland - „die meisten Menschen haben keinen Standpunkt, also muß man ihnen einen geben“ - steht dabei gleichberechtigt neben dem Diktum Oscar Wildes, Mode sei, was man selber trägt, und unmodern das, was die anderen tragen. Auseinandersetzungen finden allenfalls zwischen Jugendkulturen statt und haben eher sportlichen Charakter. Man ist gelassen, was immer man tut, und was immer man trägt, man trägt es lässig. Die Welt der Mode ist eine Insellandschaft geworden. Man hüpft von Eiland zu Eiland und hat nur darauf zu achten, daß man sich vor jedem Sprung umzieht.
Die Mode der achtziger Jahre ist ein Spiel, das mit krampfhaftem Ernst betrieben wird. Die Werbung propagiert einen Individualismus, der darin besteht, sich stets das Teuerste zu leisten, und definiert Persönlichkeit als eine Frage des Einkommens. Die Couturiers nennen sich Designer und sind bemüht, die Trennung zwischen Kunst und Design zu überwinden, aufzuheben oder auch einfach nur zu verwischen. Ihre Kundinnen versuchen, aus dem unüberschaubaren Angebot „kreativ“ auszuwählen, denn heutzutage kann es schließlich kaum jemand mit seinem Selbstbewußtsein vereinbaren, sich nicht kreativ zu finden. Das ist, allem Anschein nach, nicht immer ganz einfach, aber natürlich gibt es auch hier ein simples Rezept: „Man muß die Objekte dominieren“, sagt die ex zentrische Modejournalistin Anna Piaggi, der Karl Lagerfeld ein ganzes Buch gewidmet hat.
Man muß tatsächlich, denn jeder muß mitspielen, ob er will oder nicht. Wo alles erlaubt ist, ist nichts mehr wirklich unmodern. Und wo nichts unmodern ist, kann niemand wirklich unmodisch sein. Aber wer mit seiner Kleidung gar nichts ausdrücken will, kann nicht verhindern, daß andere darin lesen. Die Mode ist ein allgegenwärtiges Zeichensystem geworden, dem niemand entfliehen kann. Scheinbar banal, aber lückenlos. Wenn Walter Benjamin recht hatte, als er der Mode jene Kraft der Antizipation zugestand, die gemeinhin einzig der Kunst vorbehalten ist, müßte die Mode aufschlußreicher sein als je zuvor. „Jede Saison“, schrieb Benjamin, „bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. - Zweifellos liegt hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu machen.“ Beides, den Reiz und die Schwierigkeit, sie zu lesen, hat die Mode sich zweifellos erhalten. Allerdings erschließt sich hier der Reiz nur dem Betrachter, nicht dem Träger der Mode. Ihn zwingt eine andere Triebfeder, sein Äußeres immer wieder zu verändern.
Der letzte Schrei heißt stets „Das Spiel beginnt“, eine neue Runde nach uralten Regeln. Ein paradoxes Spiel: Auf der Flucht vor dem herrschenden Bild, dem neuesten Trend auf den Fersen. Ein aufreibendes Spiel: Auf der Jagd nach einem ständig wechselnden Ideal, und gleichzeitig zu Individualität und Persönlichkeit verpflichtet. Ein endloses Spiel: Der letzte Schrei hat nie das letzte Wort.
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