: Ethnische Fragen: Sprengstoff für Europa
■ Nationalistische und regionalistische Konflikte brodeln im Osten wie im Westen
Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Nationalismus und Regionalismus. Neben altbekannten Separatisten im Baskenland, in Südtirol und in Nordirland treten immer mehr neue Abspaltungsbewegungen auf. Das Problem von ethnischen Gruppen, die staatliche oder regionale Eigenständigkeit erkämpfen wollen, ist keineswegs nur eine Angelegenheit des Vielvölkerstaates Sowjetunion, sondern steht offenbar auch dem „freien Westen“ bevor. Dies ausgerechnet in einer Zeit, da sich „Europa“ als effizientes Weltmachtzentrum zu konstituieren sucht. Unsere Korrespondenten und Mitarbeiter berichten, wie es in verschiedenen Ecken des „alten Kontinents“ aussieht. Werner Raith mußte in Mailand eine verkehrte Welt zur Kenntnis nehmen: Die geldstrotzenden Bewohner Norditaliens fühlen sich vom armen Süden ausgebeutet. Ralf Sotscheck besuchte die Nordwaliser, deren hierzulande kaum bekannte Unabhängigkeitsbewegung „Meibion Glyndwr“ die Landvillen von zugezogenen Engländern anzündet. Erhard Stölting berichtet von den lautstarken Forderungen in der Sowjetrepublik Moldawien nach einem Anschluß an das sprachverwandte Rumänien.
Es sei doch „bei Gott etwas ganz Natürliches“, brüllt Umberto Bossi, Senator in Rom und Abgeordneter zu Straßburg, in den überfüllten Kongreßsaal der „Liga Lombarda“, „wenn wir, wie jedes Volk, unsere Heimat für uns reklamieren und wenn wir das, was wir erwirtschaften, als unser Eigentum ansehen.“
Das Plenum trampelt und klatscht - wie immer bei Bossis Versammlungen sind Hunderte von Handwerkern, Bauern, Unternehmern, Beamten, aber auch so mancher Bankdirektor und Leiter staatlicher Betriebe genau deshalb zu seiner Versammlung gepilgert, um solche Sprüche zu hören. Und noch mehr: „In Rom, da sitzen Ausbeuter, die unsere Steuern kassieren und uns nichts dafür geben. Statt dessen senden sie uns Millionen ungebildeter Hungerleider aus dem Süden herauf und setzen uns noch Regierungschefs von dort vor die Nase.“ Daher, so eine der lautesten Mitstreiterinnen von „Liga„-Gründer Bossi, Maria Antonietta Favetti aus Bergamo, „müssen wir unseren Staat selbst in Frage stellen und überlegen, etwa eine eigene Republik zu konstituieren, die ihre Rechte in der Europäischen Gemeinschaft einfordert“.
Solche Töne haben Erfolg: Mehr als 630.000 Stimmen sammelte die Listenvereinigung oberitalienischer Regionalligen bei den Europawahlen mit im wesentlichen antisüdlichen Slogans. Doch die rassistisch-independistische Saat blüht nicht nur im institutionellen Rahmen: Mehr als 300 schwere Angriffe auf Süditaliener zählte die Polizei 1989 in der Lombardei und in Piemont; ein 16jähriger Junge aus Kalabrien wurde 1988 von Mailänder Klassenkameraden ermordet, ein Dutzend anderer an Marterpfähle gebunden; ein Urlauber aus Sizilien wurde bei Verona mit dem Schrei „Südlicht verrecke!“ erschlagen.
Dabei ist die Behauptung der „Liga“, finstere Südstaatler würden den Norden ausbeuten, durch nichts zu belegen. Im Gegenteil: Sieben der letzten zehn Jahre herrschten Regierungschefs aus dem Norden, zwei Jahre amtierten Römer und nur ein Jahr waltete ein Mann aus dem Süden, De Mita. Sicher: Umgerechnet viele Milliarden DM fließen in den Süden, als Hilfe für die marode Ökonomie und zur Umstrukturierung der kaputten Landwirtschaft. Doch, daß diese Gelder „allesamt in den Taschen der Mafia enden“ (Bossi), ist nur zum Teil wahr - gut die Hälfte nämlich haben Nord-Firmen - mitunter im Verbund mit Mafiosi kassiert, die dem Süden ihr Modell der Industrialisierung aufdrängen wollten. Auch die Behauptung, die Regierung sende Zuzügler in den Norden, ist Unfug - es war der Norden, der jahrzehntelang billige Arbeitskräfte angelockt und damit ganze Regionen wie Kalabrien und Basilikata entleert hat.
Daß dieser Separatismus nicht nur ein Gespinst einiger weniger ist, belegt die Angst der dort ansonsten besonders starken Sozialistischen Partei (PSI) vor massiven Einbußen: Da es sich bei der Spalterbewegung, so der Politologe Norberto Bobbio, „eben nicht um eine Reaktion auf soziale Ausplünderung, sondern um eine Besitzstandssicherung der Reichen handelt“, ist genau die Sozialistenklientel besonders anfällig für „Liga„-Parolen. Schon überlegen PSI -Bürgermeister, ob sie einen Lombardenbonus bei der Besetzung kommunaler Stellen einführen oder das Nachholen von Familienmitgliedern erschweren können.
Der sonst als gewalttätig verschrieene Süden gibt sich bei alledem sehr moderat: Obwohl Sizilien nach dem Zweiten Weltkrieg den blutigsten Separatismus des Westens aufwies, reagiert es kaum auf den Nord-Rassismus, und schon gar nicht mit einem Spalterdenken. Solche Milde gegen die „Liga„ -Angriffe macht freilich Sinn: Die rückständige Insel wäre, wie der Soziologe Arlacchi errechnet hat, „anders als das hochmoderne und reiche Oberitalien, separat auf sich gestellt, in wenigen Monaten pleite“.
Verkehrte Welt: Nord-Reiche, die das ganze Land bisher als rechtmäßiges Objekt ihrer Ausbeutung sahen, sinnen auf Teilung, weil sie so in Europa mit ihren Pfunden besser wuchern zu können glauben, während der traditionell separatistische Süden sich auf Gedeih und Verderb gesamtnational geben muß!
Werner Raith
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