: Moldawier wollen zu Rumänien
Die in Moldawiens Hauptstadt Kischinjow (rumänisch Chisinau) bei Demonstrationen gezeigten rot-gelb-blauen Fahnen, von der rumänischen nur durch den aufgesetzten Auerochsenkopf unterschieden, ließen es schon vor einem Jahr erkennen: Die Forderung nach einem Anschluß der heutigen Sowjetrepublik Moldawien an Rumänien flammt auf, besonders jetzt seit Ende des Ceausescu-Regimes. Die Fahne repräsentiert dabei das historische Fürstentum Moldau, dessen östlicher Teil, Bessarabien, heute noch Teil der Sowjetunion ist. Umgekehrt aber treibt die Furcht vor einer Romanisierung des Landes auch die Minderheiten um. In Tiraspol, das zu neunzig Prozent russischsprachig ist, tauchten Ende Januar die ersten Forderungen nach einer autonomen Republik auf, was unter den nationalbewußten Moldawiern wiederum heftige Gegenreaktionen hervorrief.
Hintergrund der ethnischen Polarisierung ist eine Russifizierung, die ähnlich massiv war wie die in der Ukraine und in Weißrußland. Russisch war die Sprache der Verwaltung, wer Karriere über Kischinjow hinaus machen wollte, mußte sich daran halten. Moldawisch spricht dagegen vor allem die in diesem Agrarland starke Landbevölkerung und die kulturelle Intelligenz. Deren Muttersprache wurde zum bloßen Idiom der Bauern reduziert.
Russifizierung seit 1812
Die Russifizierung war nicht nur die Folge einer ungesteuerten Homogenisierung, wie sie in vielen Staaten zum Verschwinden von Sprachen und Gewohnheiten führt, sie wurde mit einer ganz bewußten Politik betrieben. Seit Rußland 1812 Bessarabien von der Türkei erbeutete - oder, wie es offiziell heißt, „vom türkischen Joch befreite“ -, wurde die rumänische Kultur zurückgedrängt. Die zaristische Polizei konnte die Herausbildung eines intellektuellen Nationalismus aber nur erschweren, nicht verhindern.
1918 konstituierte das Land sich als unabhängige Republik. Deren nach Ständen und Nationen sortiertes Parlament (unter den 105 Abgeordneten 15 Ukrainer, 14 Juden, sieben Russen, zwei Deutsche, zwei Türken, ein Armenier und ein Grieche) beschloß nach zwei Monaten den Anschluß an Rumänien.
Die Sowjetunion allerdings erkannte diese Entscheidung nie an, und Bessarabien wurde 1940 beziehungsweise 1944 wieder Stalins Reich einverleibt. Die Moldawier hatten nun eine einige Nation zu sein, ohne ethnische Unterschiede, die Menschen mußten kyrillisch schreiben - eine Armee von Philologen wies sogar nach, daß die Landessprache bis auf einige Ähnlichkeiten überhaupt nichts mit dem Rumänischen zu tun habe. Rumänische Zeitschriften, Zeitungen, Filme und Lieder wurden verboten; das Verdikt galt bis 1987.
Europa heißt das Recht auf
den eigenen Grenzpfahl
Es hatte die Konsequenz, daß es trotz des starken Vereinigungswillens der Moldawier bisher an einer gemeinsamen kulturellen Grundlage fehlt. Viele oppositionelle Intellektuelle Moldawiens greifen, mangels konsensfähiger Alternativen, heute noch auf romantisch -nationalistische Traditionen Europas zurück, in denen das alte Bauerntum als identitätsstiftender Lebensquell des Volkes erscheint. Der einst fruchtbare Kosmopolitismus, der sich trotz Ceausescu auch in Rumänien noch in Resten halten konnte, muß als Basis für ein neues Moldawien, will es sich nicht ganz nach rückwärts orientieren, erst wiederentdeckt werden. Derzeit heißt Europa für die meisten Menschen dort erst einmal Ausgrenzung der Slawen, Abbau dessen, was in fast zwei Jahrhunderten aufoktroyiert wurde. Europa ist für sie nicht die Kultur aus den anderen Hauptstädten des Kontinents, sondern das Recht auf die eigene Fahne, die Hymne, den Grenzpfahl.
Die Opposition in der Sowjetrepublik Moldawien formiert sich seit 1988. Wie überall im Sowjetreich ging es zunächst um die Forderung nach Demokratie, Autonomie, Umweltschutz und sprachlichen Rechten; nach baltischem Vorbild entstand 1989 auch eine Volksfront. Im Herbst die ersten Erfolge: Moldawisch wurde zur Staatssprache und neben dem Russischen offizielles Verständigungsmittel zwischen den Ethnien der Republik; auch darf man inzwischen wieder mit lateinischen Buchstaben schreiben. Der konservative russophile Parteichef Gorssau wurde gestürzt, nachdem Demonstrationen am 7. November in Kischinjow die übliche Militärparade zur Oktoberrevolution verhindert hatten. Grossaus Nachfolger Lucinschi, Philologe und Historiker, sympathisiert mit den moldauischen Forderungen; er veranlaßte den Rückzug der Armee, nachdem eine Menschenmenge das Innenministerium gestürmt hatte.
Die Tendenz ist freilich nicht unumstritten: Den ganzen Sommer 1989 gab es auch Streiks für den Status quo. Sie gingen von der zweitgrößten Stadt des Landes aus, von Tyraspol, und griffen auf Bendery, Rybniza und schließlich auch auf die Hauptstadt Kischinjow über. Mehr als 100.000 Menschen beteiligten sich daran - mit Parolen wie: „Wir sind keine Gäste, wir sind hier zu Hause“. Tatsächlich sind 14 Prozent der Bevölkerung der Republik Ukrainer, 13 Prozent Russen, drei Prozent Türken, zwei Prozent jeweils Bulgaren und Juden.
Solange die Oppositionsbewegung nach Demokratie und Umweltschutz rief, hatte sie unter nahezu allen Volksgruppen Anhänger - Feind war die konservative Führung der Republik. Die Verlagerung auf moldawische Forderungen gab den Konservativen jedoch wieder Gelegenheit, die slawische Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen und sogar den demokratischen Umbau zu instrumentalisieren. Die eine Seite schimpfte „Faschisten“, die andere „Stalinisten“.
Erhard Stölting
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen