Standbild: Gelebte Simulation

■ Leben - BRD

(Leben - BRD, Di., 20.2., ZDF, 23.10 Uhr) Leben findet eigentlich nicht statt. Der 83minütige Film von Harun Farocki, entstanden an 46 verschiedenen Schauplätzen, führt es immer wieder aufs neue vor Augen: Leben - BRD, das sind, so scheint es, zwei unvereinbare Begriffe. Das Verfahren des Films ist denkbar einfach: Farocki reiht ganz alltägliche Szenen aneinander, die Kameramann Ingo Kratisch aus interessierter Distanz protokolliert hat: Angehende Hebammen bereiten sich am fleischfarbenen Rumpfmodell auf die erste Entbindung vor, zukünftige Polizisten erlernen im Rollenspiel einen Verdächtigen mühelos in die Knie zu zwingen, Kinder werden von einem Schutzmann in das sichere Überqueren einer Straße eingewiesen. Erst links schauen, dann rechts schauen und immer den Kopf nach oben. In der Wiederholung liegt das Geheimnis des Lernerfolgs. Das gilt für die Verkehrserziehung ebenso wie für das Entbinden. Den Situationen gemein: Das So-tun-als-ob, während ein imaginierter Ernstfall unsichtbar über allem schwebt. Leben, die Vorbereitung auf den Ernstfall?

Die Vorstellung einer Situation als Impuls, deren Bewältigung im Voraus zu planen. „Herr Götz“, fragt ein Versicherungsvertreter im simulierten Kundengespräch den Klienten, „was wäre, wenn Sie gestern abend nicht nach Hause gekommen wären? Haben Sie sich schon mal darüber Gedanken gemacht?“ Farocki dringt auch in den Olymp der simulierten Ernstfälle ein. Hier, bei den Versicherungen, verwandeln sich düstere Imaginationen in bares Geld.

Doch Leben - BRD skizziert nicht nur ein illustres Kaleidoskop der Vortäuschungen, sondern entlarvt die Simulation und die damit verknüpfte Rollenaneignung auch als wesentlichen Bestandteil unserer gesellschaftlichen Sozialisation. Was hier aber in eher abstoßend-trockenem Soziologen-Deutsch verschriftlicht ist, weiß Farocki mit der ihm eigenen Ironie zu präsentieren. Eine Striptease-Tänzerin übt sich im gekonnten Entkleiden, aber immer wieder unterbricht ein aufmerksamer Choreograph, weist hin auf vermeintliche Fehler und läßt das Entkleidungsritual wieder und wieder von vorne beginnen. Man kann es an sich selbst merken, daß man, als die Tänzerin nach dem vierten oder fünften Versuch ihren Rock noch immer nicht fallen läßt, geradezu hofft, die Frau möge sich endlich in ihre Rolle einfühlen. Leben - BRD bezieht den Zuschauer auf eine tückische Weise mit ein in seine Abfolge von gespieltem Leben und reißt ihn, wenn auch nur kurz, aus der Rolle des Beobachters, macht ihn zum frustrierten Voyeur.

Nicht in die Bildern hinein, sondern aus ihnen heraus zu denken hat Harun Farocki einmal sein ästhetisches Konzept beschrieben. Mit Leben - BRD ist er sich treu geblieben.

Friedrich Frey