„Wir haben die gleiche Gründlichkeit auch in anderen Fällen zu erbringen“

Interview mit dem Präsidenten des nordrhein-westfälischen Landesarbeitsamtes, Olaf Sund, über den Umgang der Behörden mit arbeitssuchenden Aus- und ÜbersiedlerInnen  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Sund, vorausgesetzt, der Zuzug von Aus- und Übersiedlern hält an: wann ist der Punkt erreicht, an dem die Arbeitsamtsverwaltung die Segel streichen muß? Gibt es Pläne, zum Beispiel das Eingliederungsgeld weiter zu kürzen?

Olaf Sund: Was künftige Planungen angeht, bin ich auch nicht klüger als jeder Zeitungsleser. Eine penible Alternativ oder Vorratsplanung scheint mir angesichts der raschen Abfolge von Veränderungen im deutsch-deutschen Verhältnis auch kaum sinnvoll. Die Probleme verschärfen sich aber ohne Frage, und wenn wir nicht eine so außergewöhnlich günstige Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung gehabt hätten, dann wären die Verdrängungswirkungen am Arbeitsmarkt noch wesentlich rabiater gewesen.

Wie hoch ist die Arbeitslosenquote bei den Übersiedlern?

Man kann sagen, daß bei den Übersiedlern rund gerechnet über 60 Prozent der hier Eintreffenden auch Arbeit suchen. Bei den Aussiedlern liegt die Quote etwa bei 50 Prozent. Wie hoch die eigentliche Arbeitslosenquote bei beiden Gruppen ist, läßt sich dagegen nicht exakt benennen, da es auch solche gibt, die am Arbeitsamt vorbei sofort ein Beschäftigungsverhältnis eingehen. Wir können Ihnen nur die Zahl der arbeitslos Gemeldeten nennen. Im Januar 1990 waren in NRW 59.962 Aussiedler und 28.327 Übersiedler arbeitslos. Hinzu kommen 39.000 Aussiedler, die sich in Sprachlehrgängen befinden und 9.600, die Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen durchlaufen. Im Bundesgebiet waren im Januar 127.454 Aussiedler arbeitslos und 132.064 Übersiedler. In Sprach- und Fortbildungskursen befanden sich zusätzlich 122.300 Aussiedler.

Zumindest am Anfang scheinen ja die Übersiedler in den Durchgangslagern mit Jobs bombardiert worden zu sein. Hatten oder haben die DDR-Bürger am Arbeitsmarkt bessere Chancen als die etwa zwei Millionen bundesdeutschen Arbeitslosen?

Es hat bei uns keine Rangreihe bei der Vermittlung gegeben. Wir haben allen Gruppen am Arbeitsmarkt unsere Dienste angeboten und geholfen, Chancen zu nutzen. Dennoch hatten junge Übersiedler bei den nach Arbeitskräften nachfragenden Unternehmen anfangs einen klaren Vorteil, nicht zuletzt auch wegen der günstigen öffentlichen Aufnahme, die sie gefunden haben. Qualifzierungs- und Mobilitätsvorteile gegenüber manchen bundesdeutschen Arbeitslosen kamen hinzu.

Haben sich die Erwartungen der Unternehmen erfüllt?

Viele Arbeitgeber haben ja angenommen, daß sie den Fachkräftemangel durch Übersiedler ausgleichen könnten. Diese Vorstellung ist nur begrenzt aufgegangen, weil sich erhebliche Anlernungs- und Qualifizierungsprozesse als notwendig erwiesen. Die hohe Aufgeschlossenheit der ersten Zeit ist inzwischen einer wesentlich nüchterneren Einschätzung gewichen. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die zum Beispiel mit dem Arbeitstempo nicht zurechtgekommen sind.

Haben sich bei Ihnen inzwischen bundesdeutsche Arbeitslose beschwert, daß DDR-Bürger und nicht sie einen Job bekommen haben?

Täglich werden zahllose Gespräche dieser Art geführt. Das ist aber bei einem Wettbewerb um knappe Stellen nicht weiter verwunderlich.

Der Spitzenkandidat der SPD in Niedersachsen, Gerhard Schröder, hat weitere Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung für Übersiedler, also beim jetzigen Eingliederungsgeld, verlangt. Was halten Sie davon?

Wenn ich den Vorschlag richtig verstanden habe, dann ging es dabei um eine Gleichbehandlung bei der Sperrzeitenregelung. Wenn ein Bundesbürger selber zu vertreten hat, daß sein Arbeitsverhältnis beendet worden ist, muß er unter Umständen eine Sperrzeit von bis zu zwölf Wochen hinnehmen. Das gilt für Übersiedler nicht, weil wir ja auch gar nicht in der Lage sind, die Gründe für die Beschäftigungsaufgabe in der DDR zu klären: Was machen die besonderen Verhältnisse in der DDR aus? Was ist individuell zu vertreten? Deshalb unterstellen wir grundsätzlich, daß der einzelne Übersiedler den Wechsel nicht zu vertreten hat.

Sachlich ist das ja nicht zu rechtfertigen, denn Sie wissen doch, daß die DDR-Bürger nicht von ihrem Arbeitgeber gekündigt worden sind - von den Stasi-Mitarbeitern mal abgesehen -, sondern daß sie den Job freiwillig geschmissen haben.

Diejenigen, die zuerst zum Beispiel über Ungarn gekommen sind, waren ja gar nicht in der Lage, entsprechende Nachweise zu führen. Dort hat man den politischen Druck ich glaube, zu Recht - unterstellt und auf eine Sperrzeit verzichtet. Aber können wir jetzt schon eine widerspruchsfähige Einschätzung der Gründe für den Fortgang vornehmen? Ich persönlich glaube, daß man durch Kürzungen der Leistungen nur den kürzeren Hebel in die Hand nimmt, wenn es darum geht, die anhaltende Übersiedlung zu stoppen. Am Ende geht es dann zum Sozialamt.

Dennoch liegt jetzt aktuell eine Ungleichbehandlung vor.

Die Zahl der Sperrzeiten fällt bei uns tatsächlich doch kaum ins Gewicht. Man darf das auch nicht nur unter rechtlichen Aspekten sehen.

Sie halten also vom Schröder-Vorschlag nichts?

Sie spüren meine ganze Skepsis. Das ist ein Detail, das zurücktritt hinter dem Problem des großen Lohn- und Kaufkraftgefälles zwischen der DDR und der Bundesrepublik.

Dennoch bleibt eine Ungleichbehandlung, die bei den Leuten hier zu Frust führt.

Ich bin ein strikter Anhänger von Gleichbehandlung, aber hier geht es ja auch darum, daß gleiche Tatbestände gleich behandelt werden müssen. Hinzu kommt die ganz praktische Frage nach unseren Ansprechpartnern. Mit wem in der DDR sollen wir uns über die Gründe eines Weggangs verständigen? Mit dem Betrieb? Mit der Gewerkschaft? Mit einer Behörde?

Die DDR-Bürger sagen Tschüß und gehen. Die werden doch nicht von ihrem Arbeitgeber gekündigt.

Ja, so geschieht das wohl meist, aber wenn wir auf Gleichbehandlung pochen, dann müssen wir auch der geringeren Zahl derer, die nicht von sich aus Tschüß gesagt haben, sondern die zum Beispiel aus Angst vor der Pleite des alten Betriebes gehen, gerecht werden und deren Beweggründe im Gesamtzusammenhang würdigen. Da vermischt sich vieles.

Ihre Argumentation in Ehren, aber man wünscht sich eine solch sensible Würdigung des Gesamtzusammenhangs durch Behörden in wesentlich unklareren Fällen, so bei Asylbewerbern, vergebens.

Ich bin einverstanden, wenn Sie fragen, ob wir mit Flüchtlingen aus anderen Ländern, die aus aktueller politischer Verfolgung zu uns kommen, fair und verständnisvoll umgehen. Da haben wir manchen Nachholbedarf. Sie müssen aber bedenken, daß es sich bei Aus- und Übersiedlern um Menschen handelt, die bei uns als Deutsche definiert sind und sich selber auch als solche verstehen, die durch besondere Umstände davon abgehalten waren, von Anfang an gewissermaßen so zu leben wie die Bürger der Bundesrepublik, auf deren Staatsbürgerschaft sie einen Rechtsanspruch haben. Ich stimme Ihnen aber zu, daß wir die gleiche Gründlichkeit, Menschlichkeit und Genauigkeit auch in den anderen Fällen zu erbringen haben.

Aber das Gegenteil geschieht doch. Mit Hinweis auf die aufzunehmenden Aus- und Übersiedler werden die Rechte der tatsächlich politisch verfolgten Ausländer zurückgedreht und eingeschränkt.

Es geht um eine gerechte Bewertung der vielfältigen Motive der Flüchtlinge. Das ist schwer genug, aber ich bin nicht der Richter und will es auch nicht sein.

Wenn Millionen aus der DDR, aus Polen und der Sowjetunion kommen, dürfte das jetzige Versorgungssystem kaum zu halten sein.

Natürlich kann man Szenarien entwickeln, die die Sozialsysteme nicht mehr funktionieren lassen. Ich halte davon nichts. Jetzt kommt es darauf an, die Lebensumstände dort, wo die Menschen jetzt noch leben, so zu gestalten, daß sie in ihrer Heimat auch ihre Perspektive und Chance sehen. Darauf gilt es sich zu konzentrieren. Ob wir das wirklich immer tun?

Interview: Walter Jakobs