: Carlsson wird sein eigener Nachfolger
Die schwedische Regierungskrise scheint gelöst / Die Sozialdemokratie geht zwar wiederum als Minderheitsregierung, aber dennoch geschwächt daraus hervor / Balten sollen den schwedischen Arbeitsmarkt entlasten / Höhere Steuern für Investitionen in Ballungsgebieten ■ Von Dorothea Hahn
Stockholm (taz) - „Zirkus und Theater“ nannte ein schwedischer Journalist gestern das voraussichtliche Ende der Regierungskrise, die das Land eine Woche lang in Atem hielt. Nachfolger des zurückgetretenen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Ingvar Carlsson: Ingvar Carlsson. Am Donnerstag abend war der smarte Mittfünfziger vom Reichstagspräsidenten mit einer neuerlichen Regierungsbildung beauftragt worden, nachdem die konservativen Oppositionsparteien Neuwahlen gefordert hatten. Gestern stellte er in einer vom schwedischen Fernsehen landesweit übertragenen Pressekonferenz sein neues Programm vor - zur allgemeinen Überraschung handelt es sich dabei lediglich um eine korrigierte und ergänzte Neuauflage des Austeritätsprogramms, über das die sozialdemokratische Minderheitsregierung nur acht Tage zuvor gestürzt war. Demnach wollen die Sozialdemokraten auf den umstrittenen Lohnstopp und ein zweijähriges Streikverbot verzichten, stattdessen soll ein Super-Unterhändler zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern dafür sorgen, daß die Löhne nicht weiter steigen. Neu ist die Ankündigung, künftig Arbeitskräfte in den baltischen Republiken anzuwerben. Als besonderes Bonbon für die Ökologie-Interessen der Koalitionspartner - vermutlich sind es wieder die Linkspartei-Kommunisten (VPK) - werden umgerechnet rund 1,4 Milliarden DM in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gesteckt.
Auf ihre Fahnen geschrieben haben die Sozialdemokraten vor allem die Lösung eines spezifisch schwedischen Problems, das seinesgleichen sucht: Es fehlen Arbeitskräfte. Der Vorschlag, „junge Balten“ für „gewisse Perioden“ anzuwerben, wird von der schwedischen Öffentlichkeit mit Sympathie aufgenommen, gelten die Esten, Letten und Litauer hierzulande doch als „besonders skandinavisch“. Eine Entspannung für den Arbeitsmarkt verspricht sich die Regierung auch davon, daß die Schweden auf Wunsch zwei Jahre länger - bis zu ihrem 67. Lebensjahr - arbeiten dürfen. Schließlich soll mehr Geld in die berufliche Rehabilitierung und Weiterbildung der immerhin fast eine halbe Million berufsunfähiger Schweden (von rund viereinhalb Millionen Erwerbstätigen) investiert werden.
Die übrigen Vorhaben Carlssons entstammen dem bekannten Repertoire der schwedischen Sozialdemokraten, die das Land seit 1932 fast ununterbrochen regieren und deren oberste Maxime „Vollbeschäftigung“ heißt. Der Preis- und Mietenstop soll beibehalten werden, Sondersteuern zwischen 10 und 20 Prozent sollen die Bautätigkeit in den Ballungsgebieten bremsen und industrielle Umweltverschmutzer müssen höhere Strafen zahlen. Die Sozialleistungen sollen trotz der Inflationsangst beibehalten, ja verbessert werden. Dazu gehören die Verlängerung des Elternurlaubs auf 18 Monate und eine sechste Urlaubswoche pro Jahr. Finanziert werden sollen diese Vorhaben nicht zuletzt mit einer Erhöhung der Tabak und Alkoholsteuern, die jährlich rund 900 Mio. Kronen (etwa 250 Mio. DM) einbringen soll.
Ist damit alles wieder im Lot im schwedischen Wohlfahrtsstaat? Die beherrschende Frage in Stockholm lautete gestern: Warum hat Carlsson die Regierungskrise mit seinem unsäglichen Vorschlag eines Lohnstops und Streikverbots überhaupt erst hervorgerufen, anstatt gleich mit dem gestrigen Programm anzutreten, das auf eine stabile Mehrheit im Parlament rechnen kann? Carlsson selbst behauptete gestern: „Wir wollten ein Bewußtsein über die Krise schaffen.“ Das Ziel haben die Sozialdemokraten erreicht. Freilich ist dabei in Schweden vor allem klar geworden, wie tief die Krise der sozialdemokratischen Partei geht. Die Partei, aber auch der ihr treu ergebene Gewerkschaftsdachverband LO, haben durch das angekündigte Streikverbot viel an Glaubwürdigkeit verloren. Das zeigen nicht zuletzt die Meinungsumfragen dieser Woche, bei denen die Sozialdemokraten auf 32 Prozent abgesackt sind.
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