: DDR-Minister warnt vor Atomunfall
Das Neue Forum diskutiert drei Tage lang über die Energiezukunft der DDR / Minister Pflugbeil appelliert eindringlich an Greifswalder Atomwerker, sich neuen Aufgaben zuzuwenden ■ Von Gerd Rosenkranz
Ost-Berlin (taz) - Der vom Neuen Forum ins Kabinett Modrow entsandte Energieexperte Sebastian Pflugbeil hat die Bevölkerung der DDR aufgerufen, die aktuelle Kontroverse um die Atomenergie mit „besonderer Aufmerksamkeit“ zu begleiten. Anläßlich eines dreitägigen internationalen Kongresses des Neuen Forums zur Energiezukunft der DDR forderte Pflugbeil gestern im Ostberliner Universitätsklinikum Charite erneut die sofortige Abschaltung aller vier Blöcke des Atomkraftwerks Greifswald.
Eindringlich wandte sich der Minister an die Atomkraftwerker aus Greifswald unter den etwa 500 TeilnehmerInnen des Symposiums. Er verstehe ihre Zukunftsängste. Doch Arbeitsplatz- und Wohnungswechsel gehöre ab sofort überall in der DDR zum Alltag. Niemand spreche über die Arbeitsplatzverluste im Braunkohletagebau oder den Chemiekombinaten von Halle und Bitterfeld. Auch dort gebe es Betroffenen-Proteste gegen Betriebsstillegungen. „Brauchen wir wirklich erst einen schweren Atomunfall in Mitteleuropa?“ wandte sich Pflugbeil an die Greifswalder Atomwerker. Und: „Werden Sie zum Weltmarktführer für Windmühlen!“
Der BRD-Atomexperte Klaus Traube hatte in einem Auftaktreferat am Donnerstagabend die DDR davor gewarnt, die Energiewirtschaft der Bundesrepublik zu kopieren. In Ost und West neige man derzeit dazu, die beiden Energiesysteme mit dem falschen Gegensatzpaar Marktwirtschaft versus Planwirtschaft zu beschreiben. In Wirklichkeit handele es sich bei der Energiewirtschaft in der Bundesrepublik um eine „durch und durch staatlich reglementierte Veranstaltung“ auf der Basis von Monopolstrukturen.
Wie im Osten sei die hochkonzentrierte und zentralistische Struktur auch im Westen das Haupthemmnis für eine effizientere Energienutzung, weil Stromkonzerne kein Interesse an weniger Stromverbrauch haben könnten. Gegenteilige Bekenntnisse nannte Traube eine „reine Geste, um die energiepolitische Untätigkeit zu kaschieren“. Die relativen Erfolge bei den Schadstoffemissionen und bei der Energieeffizienz hätten „wenig mit Marktwirtschaft, dafür um so mehr mit dem Druck der Öffentlichkeit“ zu tun, betonte Traube.
Scharf kritisierte der Energiewissenschaftler die am Wochenanfang durch eine taz-Veröffentlichung bekanntgewordene neue Energiekonzeption aus dem Hause Schwerindustrie von Kurt Singhuber. Darin war der massive Ausbau der Atomenergie als unumgänglich bezeichnet worden.
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