: Kreml: Richtungsstreit vorläufig beendet
Gorbatschow setzt vorläufigen Schlußpunkt unter Moskauer Debatte zur Deutschland-Politik / Informationen aus den Kreml stifteten Verwirrung / Prozeß der deutschen Vereinigung dauert länger als in Bonn angenommen ■ Aus Moskau Klaus Walter
Widersprüchliche Informationen aus dem Kreml zur sowjetischen Deutschlandpolitik haben in letzten Tagen Irritation gestiftet. Nach dem Moskau-Besuch von Kohl und Genscher ist in der sowjetischen Führung ein heftiger Streit über das weitere Vorgehen in Richtung eines vereinten Deutschlands entbrannt.
Der konservative Gegenspieler von Staats- und Parteichef Gorbatschow, Ligatschow hatte sich auf dem letzten ZK-Plenum der KPdSU gegen ein vereintes Deutschland ausgesprochen und darüber eine Sondersitzung des Obersten Sowjets gefordert. Auch Außenminister Schewardnadse hat in der vergangenen Woche gleich zwei Mal ausführlich zur Deutschland -Problematik gesprochen. Er stellte in Aussicht, daß die Wiedervereinigung sich nicht so schnell einstellt, wie in Bonn vorhergesagt. Das sei ein Prozeß, der aller Wahrscheinlichkeit einige Jahre in Inspruch nehmen wird. Gorbatschow sagte, das Recht der Deutschen auf Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist von der Sowjetunion niemals in Abrede gestellt worden. Diese Angelegenheit sei aber nicht nur die der Deutschen allein. Er warnte nachdrücklich vor der Annahme, daß sich die Deutschen untereinander einigen und danach alle anderen vorschlagen, nur noch die von ihnen gefaßten Beschlüsse zu billigen.
Von strategischem Interesse für die Sowjetunion ist, daß mit dem Prozeß der Vereinigung Deutschlands das bestehende Kräfteverhältnis zwischen den Militärblöcken in Europa nicht zerstört werden darf. Gegenüber der Prawda formulierte Gorbatschow den unmißverständlichen Standpunkt seines Landes.
Vorausgegangen war eine geschlossene Sitzung des Obersten Sowjets, auf der offensichtlich ein Konsens in der Führung erzielt worden war. Dabei wird deutlich, daß sich Gorbatschow in einem Balanceakt ein weiteres Mal mit seinen Vorstellungen durchsetzten konnte. Die Frage steht, wie lange er sich noch gegen die Opposition in den eigenen Reihen behaupten kann. Besonders für die bereits stark gebeutelten Militärs, die er durch seine Abrüstungsmaßnahmen um einstige Macht und Größe brachte, ist es immer schwieriger, Verständnis und Loyalität aufzubringen. Aber auch in der Bevölkerung wächst die Befürchtung über eine wirtschaftlich desolate Sowjetunion, die - in nationale Zwistigkeiten verstrickt - nicht mehr fähig ist, sich zu verteidigen.
Überlegungen betreffs einer Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der Nato sind nicht auszuschließen, jedoch geht man davon aus, daß der Prozeß der Vereinigung sich nicht im Rahmen der Militärblöcke, sondern vor allem im gesamteuropäischen Sicherheitssystem vollziehen muß.
Die SU vertritt eine Reihe von Prinzipien, die sie als unumstößlich für eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten ansieht. So müsse ein vereintes Deutschland die bestehenden europäischen Grenzen vorbehaltlos anerkennen und keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellen. Garantien werden gefordert, damit eine Wiederkehr von Faschismus und Nazismus ausgeschlossen werden.
Gorbatschow bezeichnete es als ein unveräußerliches Recht seines Landes, darauf hinzuwirken, daß eine Vereinigung der Deutschen weder einen moralischen, noch politischen oder ökonomischen Schaden für die SU nach sich ziehen wird.
In der Deutschlandpolitik der UdSSR nehmen die ökonomischen Fragen einen gewichtigen Platz ein, nicht zuletzt deshalb, weil die DDR im Osten und die BRD im Westen jeweils die größten Außenhandelspartner sind. In Moskau wird befürchtet, daß nach vollzogener Vereinigung die Lieferungen aus der DDR ausbleiben und sich die ohnehin krisenhafte Versorgungslage im Lande weiter verschärfen würde. Gorbatschow dringt deshalb darauf, daß langfristig mit der DDR vereinbarte Abmachungen eingehalten werden. Kohl hat sich in Moskau bereit erklärt, im Interesse des Abbaus von Bedenken gegen eine Vereinigung der Sowjetunion entgegenzuwirken.
Der Gedanke eines Friedensvertrages mit Deutschland wird von Gorbatschow neu in die Diskussion gebracht. Die Sowjetunion sieht darin die Möglichkeit, den künftigen Status Deutschlands auf der Grundlage der Vereinbarungen von Jalta und Potsdam mitzubestimmen, aktiver Einfluß auf die europäischen Strukturen zu nehmen und die Interessen der vier Siegermächte auch in Zukunft zu sichern. Die Verhandlungen über den Friedensvertrag werden für Moskau zugleich ein zusätzlicher Hebel sein, weitere Zugeständnisse von Bonn abzuverlangen und die Interessen der DDR sowie der anderen Ostblockländer wirksamer zu vertreten.
Inwieweit es Gorbatschow gelungen ist, die bestehenden Differenzen im Kreml zur Deutschlandproblematik zu überwinden, ist noch nicht abzusehen. Nicht auszuschließen ist auch ein Spiel mit verteilten Rollen, um die sowjetischen Interessen wirksamer durchsetzen zu können.
In diesem Zusammenhang wird es von nicht geringer Bedeutung sein, wie es die sowjetische Führung verstehen wird, mit der neuen Regierung der DDR nach den Wahlen am 18. März sachbezogene und ergebnisorientierte Beziehungen herzustellen.
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