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Die Westberliner erstürmen das Umland

■ Wochenend und Sonnenschein: Westberliner probten die touristische Invasion des Umlandes / Lange Schlangen an den Grenzen und vor den Restaurants / DDR-Bürger stöhnten, können aber aufatmen: Am nächsten Wochenende gibt es vielleicht Schnee

Die vier Punks aus Kreuzberg wählten das Naheliegende und überquerten die Grenze an der Schlesischen Straße. Alles weitere sagte ihnen der Stadtplan, den der Magistrat vor einigen Wochen direkt hinter der Grenze aufgestellt hatte. „Seht mal“, fand einer heraus, „da ist er doch, der Müggelsee.“

Ob die jungen Leuten jemals den Strand fanden und wie es ihnen dort weiter erging, ist nicht überliefert. Fest steht dagegen, daß die Westberliner am Wochenende die touristische Invasion des Umlandes probten. Bis zu anderthalb Stunden lang standen die Mauerstädter am Samstag und Sonntag an den Grenzübergängen im Stau. Fast ebenso lang standen sie vor Imbißbuden und in Restaurants, um ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee zu ergattern. Die realsozialistischen Restaurants und Imbißbuden standen auch - aber vor dem Kollaps.

Auf die Frage nach den Besucherzahlen vom Wochenende scheute der Türsteher im Operncafe auch vor dieser Vokabel nicht zurück: „Wahnsinn“. Sein Etablissement hatte wie die meisten Cafes im Ostberliner Stadtzentrum - am Samstag erstmals in diesem Jahr Tische und Stühle vor die Tür gestellt. Der Biergarten vor dem Zeughaus beispielsweise konnte jedoch gestern nachmittag um drei den Betrieb schon wieder einstellen: Nicht nur die Buletten waren alle, sondern auch das Bier. „Nachschub?“ fragten die drei Männer hinter dem Tresen, „woher soll denn Nachschub kommen?“

So schwierig hatten sich viele Westberliner den Ausverkauf der DDR nicht vorgestellt. Zunächst lagen sie auf Platz 20, die drei Kreuzberger, die sich am Samstag nachmittag in die Schlange vor dem Stehcafe im Treptower Plänterwald einreihten. Als sie eine Viertelstunde später auf den zehnten Rang vorgerückt waren, war der Kaffee alle. Die Kuchenvorräte waren ebenfalls erschöpft, als die Kreuzberger schließlich die Theke erreichten. Aber es gab einen Trostpreis: Eierlikör war noch da.

Noch schlimmer traf es freilich die Einheimischen: „Jetzt werden wir heimgesucht. Wir kommen nirgends mehr rein“, klagten viele Ost-Berliner. Kellner und Kellnerinnen taxierten ihre Gäste und gewährten nur noch denjenigen Einlaß, in deren Geldbeutel sie West-Mark vermuteten. Im Operncafe wurden diese Unterstellungen freilich heftigst dementiert: „Was glauben Sie, was wir uns hier dauernd anhören müssen“, beklagte sich der Türsteher über Konfrontationen mit Einheimischen, die wegen Überfüllung abgewiesen werden mußten. „Die denken alle, ich will 'ne gute Mark machen. Aber das stimmt einfach nicht.“

Viele DDR-Bürger wagten freilich die Gegenoffensive und starteten ebenfalls über die Grenze. Hans-Joachim Friedrich vom Präsidium der Volkspolizei: „Eine große Anzahl von Bürgern hat das schöne Wetter zu einer Fahrt nach West -Berlin genutzt.“ Der Preis: bis zu eine Stunde Stau an den innerstädtischen Grenzübergängen.

In umgekehrter Richtung registrierte die Westberliner Polizei am Samstag bis zu anderthalb Stunden Wartezeit. Am Sonntag sei der Stau an manchen Übergängen sogar „noch stärker gewesen, hieß es beim Lagedienst. Neben der nach Potsdam führenden Glienicker Brücke wurde vor allem der Übergang Ostpreußendamm in Lichterfelde belagert. Durch ihn strebten die Westberliner nach Teltow und in die Landstriche südlich von Berlin.

Heute können die DDR-Bürger aufatmen. Eine Kaltfront, die von Westen herangerückt ist, hat den Einmarsch vorerst gestoppt. „Morgen wird es deutlich kühler“, prophezeite Norbert Becker-Flügel, der Meteorologe vom Dienst. Am Samstag hatten die FU-Meteorologen Temperaturen bis zu 17 Grad ermittelt und gestern immerhin noch 14 Grad. Ob die Westberliner auch am nächsten Wochende den Ostberlinern die Tortenstücke wegschnappen, gilt aus meteorologischer Sicht als überaus zweifelhaft. „Eventuell“, so die Prognose der Wetterfrösche, „gibt es auch noch Schnee.“

Hmt

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